Sie war sich niemals sicher, wie lange sie in dieser Nacht geflogen waren. Es konnten Stunden oder auch nur Minuten gewesen sein. Sie klammerte sich an Triss und die Haltegurte, während sie darum kämpfte, wach zu bleiben. Ihre Erschöpfung reichte bis zum Punkt der Gefühllosigkeit. Faun hatte seine Arme warm und pelzig um ihren Hals gelegt, und sie konnte den ängstlichen Atem des Baumschreiers an ihrem Hals spüren. Irgendwo hinter ihr ritt schweigend Stresa. Sie hörte Tiger Ty ein- oder zweimal etwas zu ihr zurückrufen, aber seine Worte gingen im Wind verloren, und sie machte sich nicht die Mühe, eine Antwort zu versuchen. Eine Vision von Morrowindl in diesen letzten Minuten schwamm geisterhaft an ihren Augen vorbei, ein harter unnachgiebiger Alptraum, der niemals dem Schlaf weichen würde.
Als sie landeten, wieviel Zeit auch immer bis dahin vergangen sein mochte, war es noch immer Nacht, aber der Himmel um sie herum war klar und strahlend. Spirit ließ sich auf einem schmalen Atoll nieder, das grün bewachsen war. Der süße Geruch von Blumen wehte in der Luft. Wren atmete die Düfte dankbar ein, als sie von Rocks breitem Rücken glitt und automatisch die Hände nach Triss und dann nach Stresa ausstreckte. Stell dir das vor, dachte sie benommen – ein Mond und Sterne, eine Nacht, die von ihrem Licht erhellt wird, kein Nebel oder Dunst, kein Feuer.
»Hier entlang, hier hinüber, Mädchen«, riet Tiger Ty ihr freundlich und nahm sie am Arm.
Er führte sie zu einem Flecken weichen Grases, wo sie sich hinlegte und sofort einschlief.
Die Sonne glühte rot vor dem Horizont, als sie wieder erwachte. Sie war eine scharlachrote Kugel, die aus den karmesinroten Wassern des Meeres in einen Himmel aufstieg, der schwarz war von Gewitterwolken. Der Sturm und sein Feuer schienen auf einen einzigen Flecken der Erde und des Himmels konzentriert zu sein. Sie erhob sich auf den Ellenbogen und spähte zu dem seltsamen Phänomen hoch, wobei sie sich fragte, wie das sein konnte.
Doch dann flüsterte Tiger Ty, der an ihrer Seite Wache hielt! »Schlaft weiter, Fräulein Wren. Es ist noch immer Nacht. Das dort draußen ist Morrowindl. Es steht ganz in Flammen und brennt von innen nach außen aus. Der Killeshan hat alles zerstört. Es wird bald nichts mehr übrig sein, vermute ich.«
Sie schlief weiter, und als sie erneut erwachte, war es Mittag, die Sonne stand hoch in einer wolkenlosen, blauen Weite über ihr, die Luft war warm und wohlriechend, und die Gesänge der Vögel waren ein strahlendes Trillern vor dem Rauschen des Meeres an den Felsen. Faun schnatterte irgendwo in der Nähe. Sie erhob sich, um nach ihm zu sehen, und fand den Baumschreier auf einem Felsen, wo er an einer Weinranke zog, so daß er ihre Blätter anknabbern konnte. Triss schlief noch, und Stresa war nirgends zu sehen. Spirit saß draußen am Rand der Klippe, und seine wilden Augen starrten hinaus auf das leere Wasser.
Tiger Ty erschien hinter dem Vogel und schlenderte herüber. Er gab ihr einen Beutel mit Obst und Brot und winkte sie von dem schlafenden Triss fort. Sie erhob sich, und sie gingen und setzten sich in den Schatten einer Palme.
»Seid Ihr jetzt ausgeruht?« fragte er, und sie nickte. »Eßt ein wenig davon. Ihr müßt fast verhungert sein. Ihr seht aus, als hättet Ihr seit Tagen nichts gegessen.«
Sie aß dankbar und nahm auch den Alekrug entgegen, den er ihr anbot, und trank, bis sie dachte, sie würde platzen. Faun wandte sich um und beobachtete sie mit hellen, neugierigen Augen.
»Ihr scheint ein paar neue Freunde aufgesammelt zu haben«, erklärte Tiger Ty, als sie fertig war. »Ich kenne den Elf und den Stachelkater dem Namen nach, aber wie heißt dieser?«
»Sein Name ist Faun. Er ist ein Baumschreier.« Wrens Blick begegnete dem seinen. »Danke, daß Ihr uns nicht im Stich gelassen habt, Tiger Ty. Ich habe mit Euch gerechnet.«
»Ha!« schnaubte er. »Als wenn ich die Chance verpassen würde, herauszufinden, wie alles ausgegangen ist. Aber ich gebe zu, ich hatte meine Zweifel, Mädchen. Ich dachte, Eure Torheit hätte Euch vielleicht das Leben gekostet. Sieht so aus, als wäre es fast so gewesen.«
Sie nickte. »Fast.«
»Nachdem der Vulkan ausgebrochen war, kam ich jeden Tag zurück, um nach Euch zu schauen. Ich sah ihn schon aus zwanzig Meilen Entfernung explodieren. Ich sagte mir, es müsse etwas damit zu tun haben, daß Ihr mir damit ein Zeichen geben wolltet! Und das habt Ihr auch getan, nicht wahr?« Er grinste, und sein Gesicht legte sich dabei in Falten wie altes Leder. »Wie dem auch sei, wir kreisten einmal am Tag über der Insel, Spirit und ich, und suchten nach Euch. Ich hatte gerade die Runde der letzten Nacht beendet, als ich Euer Licht sah. Sonst wäre ich vielleicht schon zurückgeflogen. Wie habt Ihr das überhaupt geschafft?« Er schürzte die Lippen und zuckte dann die Achseln. »Nein, wartet, sagt es mir nicht. Das war die Magie der Landelfen, wenn ich mich nicht irre. Es ist besser, wenn ich es nicht weiß.«
Er hielt inne. »Auf jeden Fall bin ich sehr froh, daß Ihr in Sicherheit seid.«
Sie lächelte zustimmend, und sie saßen einen Moment schweigend da, den Blick auf den Boden geheftet. Vögel, die sich vom Fischfang ernährten, schossen vorbei und tauchten in das offene Wasser wie weiße Pfeile, die Flügel zurückgelegt und die langen Hälse ausgestreckt. Faun kam von seinem Ausguck herunter, um an Wrens Arm heraufzuklettern und sich an ihrer Schulter zu verbergen.
»Ich vermute, Euer großer Freund hat es nicht geschafft«, sagte Tiger Ty schließlich.
Garth. Der Schmerz der Erinnerung trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das hat er nicht.«
»Das tut mir leid. Ich glaube, Ihr werdet seinen Verlust noch lange Zeit empfinden, nicht wahr?« Die klugen Augen wandten sich ab. »Einige Arten von Schmerz heilen nicht so leicht.«
Sie sagte nichts. Sie dachte an ihre Großmutter und an Eowen, an die Eule und Gavilan Elessedil, an Cort und Dal, die alle in dem Kampf darum verloren gingen, Morrowindl zu verlassen, alle ein Teil des Schmerzes, den sie mit sich trug. Sie schaute hinaus über das Wasser in der Ferne und suchte den Horizont. Sie fand schließlich, was sie gesucht hatte, einen dunklen Fleck vor dem Horizont, wo Morrowindl langsam zu Asche und Felsgestein verbrannte.
»Und was ist mit den Elfen?« fragte Tiger Ty. »Ihr habt sie vermutlich gefunden, wenn man von der Tatsache ausgeht, daß einer von ihnen mit Euch gekommen ist.«
Sie schaute wieder zu ihm zurück, von der Frage überrascht, denn sie hatte einen Moment lang vergessen, daß er nicht bei ihr gewesen war. »Ja, ich habe sie gefunden.«
»Und Arborlon?«
»Auch Arborlon, Tiger Ty.«
Er sah sie einen Augenblick lang an und schüttelte dann den Kopf. »Sie wollten nicht zuhören, nicht wahr? Sie wollten nicht gehen.« Er verkündete dies als Tatsache und mit unverhüllter Bitterkeit in der Stimme. »Jetzt sind sie alle fort und verloren. Sie alle. Törichtes Volk.«
Töricht, in der Tat, dachte sie. Aber nicht verloren. Noch nicht. Sie versuchte, Tiger Ty vom Loden zu erzählen, versuchte, die richtigen Worte zu finden, aber sie konnte es nicht. Es war zu hart, gerade jetzt davon zu sprechen. Sie war noch zu nahe an dem Alptraum, den sie zurückgelassen hatte, und quälte sich noch immer durch die rauhen Empfindungen, die auch der kleinste Gedanke daran hervorrief. Wann immer sie die Erinnerungen wieder hervorholte, fühlte sie sich, als würde ihr die Haut vom Körper gezogen. Sie fühlte sich, als würde ein Feuer sie versengen und bis auf die Knochen brennen. Die Elfen, Opfer ihres eigenen mißgeleiteten Glaubens an die Macht der Magie – wieviel dieses Glaubens war ihr hinterlassen worden? Sie erschauerte bei dem Gedanken. Wahrheiten mußten erwogen und ermessen, Motive überprüft und Leben geradegerückt werden. Nicht das mindeste davon war ihre Aufgabe.
»Tiger Ty«, sagte sie leise. »Die Elfen sind hier, mit mir. Ich trage sie...« Sie zögerte, als er sie erwartungsvoll ansah. »Ich trage sie in meinem Herzen.« Vor Verwirrung zogen seine Brauen sich zusammen. Er senkte den Blick und suchte ihre leeren Hände. »Das Problem ist, zu entscheiden, ob sie hierher gehören.«