Er schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Was Ihr da sagt, ergibt keinen Sinn. Nicht für mich.«
Sie lächelte. »Nur für mich. Habt eine Weile Geduld mit mir. Keine Fragen mehr. Aber wenn wir unser Ziel erreicht haben, werden wir zusammen herausfinden, ob die Lektionen von Morrowindl die Elfen etwas gelehrt haben.«
Dann erwachte Triss, räkelte sich träge aus dem Schlaf, und sie standen auf, um sich um ihn zu kümmern. Währenddessen ergriffen Wrens Gedanken die Flucht. Sie bemerkte, daß sie wie ein geübter Jongleur die Erfordernisse der Gegenwart gegen die Bedürfnisse der Vergangenheit, die Leben der Elfen gegen die Gefahren ihrer Magie, den Glauben, den sie verloren hatte, gegen die gefundenen Wahrheiten abwog. Diese Überlegungen wog sie schweigend ab. In vollständiger Konzentration bewegte sie sich zwischen ihren Begleitern, als sei sie bei ihnen, obwohl sie in Wirklichkeit wieder auf Morrowindl war, das Entsetzen seiner von der Magie in Gang gesetzten Veränderung beobachtete, die dunklen Geheimnisse der Elfenvergangenheit entdeckte, die einzelnen Teile der furchtbaren, erschreckenden Tage ihres Kampfes darum wieder hervorrief und die Aufgaben, die sie hatte erfüllen müssen. Die Zeit gefror, und während sie unbeweglich vor ihr stand wie eine Statue der frostigen, stillen Selbstprüfung, konnte sie das letzte der zerfetzten Kleidungsstücke, die ihr altes Leben gewesen waren, ablegen, jene Unschuld des Seins, die Cogline und Allanon und ihrer Reise in ihre Vergangenheit vorausgegangen war, und schließlich auch die Hülle anziehen, wer und was sie schon immer hätte werden sollen, wie sie jetzt erkannte.
Auf Wiedersehen. Wren, die du warst.
Faun rührte sich an ihrer Schulter und bat um Aufmerksamkeit. Sie gab das wenige, was sie noch zu geben hatte.
Eine Stunde später schwangen sich der Stachelkater, der Baumschreier, der Hauptmann der Leibgarde, der Flugreiter und das Mädchen, das zur Königin der Elfen geworden war, auf Spirits Rücken ostwärts den Vier Ländern zu.
29
Sie brauchten den Rest des Tages, um das Festland zu erreichen. Die Sonne war ein schwacher Silberschmelz am westlichen Horizont, als die Küstenlinie schließlich sichtbar wurde, eine gezackte, schwarze Wand vor der hereinbrechenden Nacht. Die Dunkelheit war herabgesunken, und der Mond und die Sterne erschienen, als sie auf den Fels hinabsanken, der dem verlassenen Wing Hove vorgelagert war. Ihre Körper waren verkrampft und müde, und ihre Augen waren schwer. Die Sommergerüche von Blättern und Erde wehten aus dem Wald hinter ihnen heran, als sie sich zum Schlafen niederlegten. »Phfffttt! Ich könnte dieses Land lieben lernen, Wren von den Elfen«, sagte Stresa zu ihr, bevor sie einschlief.
Beim Morgengrauen flogen sie wieder hinaus und nördlich an der Küstenlinie entlang. Tiger Ty ritt eng an Spirits glatten Hals gepreßt, die Augen nach vorn gerichtet, und sprach mit niemandem. Er hatte Wren mit langem, rauhem Blick angesehen, als sie ihm gesagt hatte, wo sie hinwollte, und er hatte seitdem nicht mehr in ihre Richtung geschaut. Sie ritten auf den Luftströmen westlich über den Irrybis und Rock Spur und in den Sarandanon. Das Land schimmerte unter ihnen – grüne Wälder, schwarze Erde, azurblaue Seen, silberne Flüsse und regenbogenfarbene Wildblumenfelder. Die Welt unter ihnen erschien makellos und wie gemeißelt. Von dieser Höhe herab war die Krankheit nicht sichtbar, die das Land mit den Schattenwesen befallen hatte. Die Stunden vergingen langsam und träge, und waren für die Freunde erfüllt mit Erinnerungen. An solchen perfekten Tagen war ein Schmerz im Herzen spürbar, eine Sehnsucht danach, daß sie für immer andauern sollten. Sie quälte allein das Wissen, daß das Morgen anders sein würde, daß im Leben nur wenige Versprechen gehalten wurden.
Sie landeten am Mittag auf einer Wiese am Südrand des Sarandanon und aßen Obst und Käse und tranken Ziegenmilch, die Tiger Ty besorgt hatte. Vögel huschten durch die Bäume, und kleine Tiere huschten von Zweigen und verbargen sich in Erdlöcher. Faun beobachtete alles, als sähe der Schreier es zum ersten Mal. Stresa schnüffelte in die Luft, sein Katzengesicht verzog sich und legte sich in Falten. Triss hatte sich weit genug erholt, um jetzt allein sitzen und stehen zu können, obwohl er noch immer bandagiert und geschient war und sein kräftiges Gesicht von Narben und Verbrennungen gezeichnet blieb. Er lächelte Wren oft an, aber seine Augen blieben traurig und abwesend. Tiger Ty blieb weiterhin für sich. Wren wußte, daß er über ihre Pläne nachgrübelte und daß er sie danach fragen wollte, sich aber auch gleichzeitig dagegen sträubte. Sie lächelte über den wunderlichen Mann.
Als sie ihre Mahlzeit beendet hatten, setzten sie ihre Reise fort. Sie flogen das Tal hinab auf den Rill Song zu. Am frühen Nachmittag folgten sie in langsamem, stetigem Gleitflug dem Flußlauf in nördlicher Richtung dem Sonnenuntergang entgegen.
Die Dämmerung sank bereits herab, als sie den Carolan erreichten. Die Felswand richtete sich als scharfer Umriß vor dem östlichen Ufer des Flusses zu einem riesigen, leeren Felsen auf, der aus einer schützenden Wand aus aufragenden Hartholzbäumen und Klippen, die noch höher aufragten, hervorstieß. Der Fels bestand aus rohem Gestein, auf dem nur vereinzelte Flecken struppigen Grases wuchsen.
Auf dem Carolan war Arborlon entstanden. Von hier war die Stadt vor mehr als hundert Jahren fortgetragen worden.
Tiger Ty lenkte Spirit hinab, und der riesige Rock ließ sich weich in der Mitte des Felsens nieder. Die Reiter stiegen einer nach dem anderen ab. Wren und Tiger Ty waren Seite an Seite schweigend damit beschäftigt, Stresa auszuwickeln und ihn auf den Boden zu setzen. Sie standen einen Moment dicht beieinander und schauten über die leere Ebene auf die Dunkelheit des Waldes im Osten und den Felsabhang im Westen. Das Land dahinter war verschwommen von Schatten, und der Himmel war schwach purpurfarben und golden getönt.
»Ssssttt! Was für ein Ort ist das?« fragte Stresa unbehaglich und schaute über den verwüsteten Felsen.
»Die Heimat«, antwortete Wren wie aus weiter Ferne, irgendwo tief in sich selbst verloren.
»Die Heimat! Sssffft!« Der Stachelkater war entsetzt.
»Und was tun wir hier, wenn die Frage erlaubt ist?« fragte Tiger Ty bissig, denn er konnte sich nicht länger zurückhalten.
»Worum Allanons Schatten mich gebeten hat«, sagte sie.
Sie griff zu Spirits Geschirr hinauf und zog den Ruhkstab hervor. Das Walnußheft war beschädigt und verschmutzt und die einst glänzende Oberfläche stumpf und abgewetzt. In seiner Halterung schimmerte der Loden im verblassenden Licht mit dumpfer, schwacher Beständigkeit.
Sie hielt den Stab mit dem schweren Ende nach unten über die Erde und umfaßte ihn mit beiden Händen. Ihre Blicke richtete sie fest auf den Stein, und ihre Gedanken reisten wieder zurück nach Morrowindl, zu den langen, endlosen Tagen des Nebels und der Dunkelheit, zu den Dämonen, den Monstern und Fallgruben und all dem Schrecken, der aus der Elfenmagie entstanden war. Die Inselwelt erhob sich aus der Erinnerung und nahm sie mit sich, ein wilder, verdammter Geliebter, der für jedermann zu gefährlich war, um ihn zu halten. Die Gesichter der Toten zogen an ihr vorbei – Ellenroh Elessedil, der die Sorge für die Elfen übertragen worden war und die sie wiederum ihr übergeben hatte, Eowen, die zu vieles von dem gesehen hatte, was sein würde, Aurin Striate, der ihr Freund gewesen war, und Gavilan Elessedil, der es hätte sein können, Cort und Dal, ihre Beschützer, und Garth, der für sie all das auf einmal gewesen war. Sie grüßte sie still und ehrfurchtsvoll und versprach ihnen allen, daß ein gewisses Maß von dem, was gegeben worden war, zurückgegeben werden würde, daß sie die an sie weitergegebene Verantwortung übernehmen und nie vergessen würde, was es gekostet hatte, die Elfen in Sicherheit zu bringen.
Sie schloß die Augen und sperrte damit die Vergangenheit aus, öffnete sie wieder und sah in die Gesichter derer, die um sie versammelt waren. Ihr Lächeln war einen Augenblick lang das ihrer Großmutter. »Triss, Stresa, Tiger Ty und du, kleiner Faun – ihr seid jetzt meine besten Freunde, und ich möchte euch bitten, bei mir zu bleiben, wenn ihr könnt, mit mir zu leben, so lange ihr es könnt. Ich werde euch nicht festhalten – nicht einmal dich, Triss. Ich beanspruche euch in keiner Weise. Ich möchte, daß ihr euch frei entscheidet.«