Also gib nicht auf, sagte sich Wren immer wieder, und die Worte waren eine Litanei der Hoffnung, um ihr Vertrauen aufrechtzuerhalten. Gib nicht auf.
Die dritte Nacht schleppte sich dahin und ließ Minuten zu Stunden werden. Sie wechselten sich häufig mit Wachehalten ab, weil sie inzwischen beide nicht mehr lange schlafen konnten, ohne aufzuwachen. Sehr oft hielten sie zusammen Wache – unruhig, besorgt, ängstlich. Sie speisten das Feuer mit totem Holz und beobachteten, wie es vor der Dunkelheit tanzte. Sie schauten in den schwarzen Raum über der Blauen Spalte hinaus. Sie erforschten die Geräusche der Nacht und ihre wirren Gedanken. Nichts geschah. Niemand kam.
Es war fast Morgen, als Wren während der letzten Stunde ihrer Wache gegen ihren Willen einige Zeit einschlief. Sie saß noch immer aufrecht, mit gekreuzten Beinen, die Arme um die Knie geschlungen, aber ihr Kopf fiel vornüber. Es waren anscheinend nur Augenblicke verstrichen, als sie wieder hochschreckte. Sie sah sich verwirrt um. Garth schlief ein paar Meter entfernt, eingewickelt in seinen großen Umhang. Das Feuer brannte weiterhin munter. Das Land war in eine Decke aus Schatten und Dämmerung gehüllt, die Frostspitzen zierten. Der Sonnenaufgang war nur als schwaches silbernes Leuchten am Rand der Berge im Osten zu sehen. Ein Gewirr von Sternen erhellte noch immer den Himmel im Westen, obwohl der Mond schon lange verschwunden war. Wren gähnte und stand auf. Wolken trieben vom Ozean aufs Land, tiefhängend und dunkel...
Sie stutzte. Es gab da noch etwas anderes, wie sie erkannte, etwas Schwärzeres und Schnelleres, das sich aus der Dunkelheit heraus auf die Klippen zubewegte und direkt auf sie zu schoß. Sie blinzelte, um sicherzugehen, trat dann eilig zurück und griff nach Garth. Der große Fahrende war sofort auf den Beinen. Zusammen schauten sie über die Spalte hinaus und beobachteten, wie das schwarze Ding Gestalt annahm. Wie sie nach einigen weiteren Sekunden erkannten, war es ein Rock, der seinen Weg zum Feuer nahm wie eine von Flammen angelockte Motte. Er strich über die Klippe und schwebte wieder zurück, sein Umriß war kaum sichtbar in dem schwachen Licht. Er flog zweimal über sie hinweg, wandte sich jedesmal um und kreuzte hin und her, als erkunde er, was unter ihm lag. Wren und Garth beobachteten ihn schweigend. Sie waren unfähig, etwas zu tun. Schließlich schoß der Rock auf sie zu. Sein wuchtiger Körper pfiff über ihre Köpfe hinweg, so nah, daß er sie mit seinen großen Klauen hätte aufgreifen können, wenn er es gewollt hätte. Wren und Garth preßten sich an die Felsen und beobachteten, wie sich der große Vogel ruhig am Rand der Klippen niederließ, ein Riese mit einem schwarzen Körper, einem Kopf so scharlachrot wie Feuer und Flügeln, die noch größer waren als die des Tieres, dem Wren vor wenigen Tagen knapp entkommen war.
Wren und Garth kamen wieder auf die Füße und klopften sich die Kleidung ab.
Ein Mann, der von den Riemen eines Lederharnischs gehalten wurde, saß rittlings auf dem Rock. Sie beobachteten, wie er die Riemen löste und sanft zu Boden glitt. Er stand neben dem Vogel und beobachtete sie einen Moment lang. Dann kam er auf sie zu. Er war klein und gebeugt und trug eine Tunika, Hosen, Stiefel und Handschuhe aus Leder. Er ging mit merkwürdig rollendem Gang, als fühle er sich nicht allzu wohl bei seiner Aufgabe. Seine Gesichtszüge waren Elfenzüge, schmal und scharfgeschnitten, und sein Gesicht war tief zerfurcht. Er trug keinen Bart, sein braunes Haar war kurz geschnitten und von grauen Fäden durchzogen. Wilde, schwarze Augen blinzelten sie mit erschreckender Behendigkeit an.
Er blieb in ungefähr zwölf Fuß Entfernung stehen.
»Habt Ihr dieses Feuer entfacht?« fragte er. Seine Stimme war schrill und etwas rauh.
»Ja«, antwortete Wren.
»Warum habt Ihr das getan?«
»Weil man es mir befohlen hat.«
»Tatsächlich? Wer, wenn Euch meine Frage nichts ausmacht?«
»Es macht mir nichts aus. Die Addershag hat mir befohlen, es zu entzünden.«
Die Augen blinzelten doppelt so schnell. »Wer?«
»Eine alte Frau, eine Seherin, mit der ich in Grimpen Ward gesprochen habe. Sie wird die Addershag genannt.«
Der kleine Mann grunzte. »Grimpen Ward. Ach! Niemand, der alle seine Sinne beisammen hat, geht dorthin.« Er preßte die Lippen zusammen. »Nun, warum hat diese Addershag Euch befohlen, das Feuer zu entfachen, hm?«
Wren seufzte ungeduldig. Sie hatte drei Tage lang darauf gewartet, daß jemand käme, und sie wollte unbedingt herausfinden, ob dieser gebeugte kleine Kerl derjenige war, den sie erwartet hatte oder nicht. »Habt Ihr einen Namen?«
Das Stirnrunzeln vertiefte sich. »Vielleicht. Warum sagt Ihr mir nicht zuerst Euren?«
Wren stützte ihre Hände herausfordernd in die Hüften. »Mein Name ist Wren Ohmsford. Dies ist mein Freund Garth. Wir sind Fahrende.«
»Aha, tatsächlich? Fahrende seid Ihr?« Der kleine Mann kicherte, als amüsiere er sich über einen ganz persönlichen Scherz. »Ihr habt auch ein wenig Elfenblut in Euch, wie es scheint.«
»Ihr auch«, erwiderte sie. »Wie heißt Ihr?«
»Tiger Ty«, sagte der andere. »Zumindest nennt mich jeder so. Gut, Fräulein Wren. Wir haben uns einander vorgestellt und uns begrüßt. Was tut Ihr hier draußen, einmal abgesehen von dieser Addershag oder wem auch immer? Warum habt Ihr dieses Feuer entfacht?«
Wren lächelte. »Vielleicht, um Euch und Euren Vogel hierher zu bringen, wenn Ihr derjenige seid, der uns zu den Elfen führen kann.«
Tiger Ty grunzte und spuckte aus. »Dieser Vogel ist ein Rock, liebes Fräulein Wren. Er heißt Spirit. Er ist der beste von allen. Und es gibt keine Elfen. Das weiß jeder.«
Wren nickte. »Nicht jeder. Einige glauben, daß es Elfen gibt. Ich wurde ausgesandt, um zu überprüfen, ob das stimmt. Könnt Ihr und Spirit mir helfen?«
Es folgte ein langes Schweigen. Tiger Ty verzog sein Gesicht immer wieder anders, so daß es ein dutzendmal einen neuen Ausdruck bekam. »Ein großer Kerl, Euer Freund Garth, nicht wahr? Ich sehe, daß Ihr ihm mit Euren Händen vermittelt, was wir sagen. Ich wette, er hört besser als wir, ei der Daus.« Er machte eine Pause. »Wer seid Ihr denn, mein Fräulein, daß Ihr Euch darum Gedanken macht, ob es Elfen gibt oder nicht?«