Barsimmon Oridio und Eton Shart lösten sich aus der Menge und kamen langsam auf sie zu. Als sie bis auf ein Dutzend Schritte herangekommen waren, blieben sie stehen. Keiner von beiden schien sprechen zu können.
Wren nahm das schwere Gewicht von dem Ruhkstab und richtete sich auf. Zum ersten Mal schaute sie zum Loden hinauf. Die schimmernden Facetten waren in Dunkelheit getaucht. Die Magie war in die Erde zurückgeflossen. Der Loden hatte sich in einen gewöhnlichen Stein verwandelt.
Sie hielt den Ruhkstab nahe an ihr Gesicht und sah, daß er verkohlt war, brüchig und tot. Nachdem sie ihn fest in beide Hände genommen hatte, führte sie ihn hinunter über ihr Knie, zerbrach ihn und warf die Überreste zu Boden.
»Die Elfen sind zu Hause«, sagte sie zu den beiden, die mit offenem Mund vor ihr standen, »und wir werden niemals wieder fortgehen.«
Triss trat hinter sie, sein Körper noch immer geschient und bandagiert, aber seine Augen waren von Stolz und Entschlossenheit erfüllt. Er trat an eine Stelle, an der er von allen gesehen werden konnte, trat nahe zu dem Hauptmann der Leibgarde und dem Ersten Minister und rief: »Leibwache!«
Sie erschienen sofort, Dutzende von ihnen, und versammelten sich aufgereiht vor ihrem Hauptmann. Ein Murmeln erhob sich aus der Menge. Eine Ahnung.
Dann wandte Triss sich nach Wren um, fiel langsam auf ein Knie und legte seine rechte Hand als Ehrenbezeigung über sein Herz. Hinter ihm flackerten die Laternen der Stadt wie Glühwürmchen in der Dunkelheit. »Wren Elessedil, Königin der Elfen!« verkündete er. »Die Leibgarde steht zu Eurer Verfügung!«
Seine Elfenjäger folgten seinem Beispiel wie ein Mann, knieten nieder und wiederholten seine Worte in einem wirren Gemurmel. Einige Elfen in der Menge taten es ihnen gleich. Es wurden immer mehr. Eton Shart kniete sich hin und dann nach einem Moment des Zögerns auch Barsimmon Oridio. Ob sie es aus Erkenntnis der Wahrheit oder einfach als Antwort auf Triss taten, sollte Wren niemals erfahren. Sie stand regungslos da, während sie vor ihr knieten: Das ganze Elfenvolk, die Aufgabe, die Ellenroh ihr übertragen hatte, ihr wiedergefundenes Volk.
Tränen standen in ihren Augen, als sie vortrat, um sie zu begrüßen. Der Keep des Druiden erschauerte ein letztes Mal wie ein massiver Steinriese, der sich im Schlaf bewegt. Dann wurde er still.
Cogline wartete gegen den schweren Lesetisch gelehnt, die Augen geschlossen, den Kopf gebeugt, und vergewisserte sich, daß seine Kraft zurückgekehrt war. Er stand einmal mehr innerhalb des Gewölbes, das die Druidengeschichten umschloß. Hier hatte er nach seiner Suche nach Walker Boh wieder zu sich selbst gefunden, nachdem er seinen Körper auf die alte Druidenart verlassen hatte. Er hatte Walker gefunden und ihn gewarnt, hatte aber nicht bleiben können – er war jetzt zu schwach, zu alt, ein Gewirr aus Knochen voller Steifheit und Schmerz. Es hatte ihn all seine Kraft gekostet, nur so viel zu tun, wie er getan hatte.
Er wartete, und die Erschütterungen kehrten nicht wieder.
Schließlich stieß er sich hoch, löste seinen Griff um den Tisch, öffnete seine Augen und sah sich aufmerksam um. Das erste, was er sah, war er selbst – seine Hände und Arme, dann seinen Körper. Er sah sich ganz – und er war wieder vollständig er selbst. Er hielt den Atem an, rieb versuchsweise seine Hände gegeneinander und berührte sich, um sich zu vergewissern, daß das, was er sah, real war. Die Transparenz war fort, er bestand wieder aus Fleisch und Blut. Rumor drängte sich gegen ihn. Sein großer Kopf stieß so hart gegen seinen vogelscheuchenartigen Körper, daß er den alten Mann umzuwerfen drohte. Die Moorkatze war auch wieder sie selbst, nicht mehr nur schwache Linien und Schatten, nicht mehr gespensterhaft.
Und der Raum war verändert. Seine Steinmauern waren hart und deutlich, seine Farben scharf abgegrenzt, und seine Umrisse und Oberflächen wurden von Materie und Licht gebildet.
Cogline atmete tief und langsam durch. Walker hatte es erreicht. Er hatte Paranor in die Welt der Menschen zurückgebracht.
Cogline ging aus dem kleinen Raum durch das Studierzimmer und weiter zu den Gängen des Keep. Rumor trottete hinter ihm her. Sonnenlicht erfüllte die Gänge und strömte durch die hochgelegenen Fenster. Staubteilchen tanzten in dem Glühen. Der alte Mann erhaschte einen Blick auf weiße Wolken an einem blauen Himmel. Der Geruch von Bäumen und Gräsern wehte durch die Sommerluft.
Zurück.
Lebend.
Er begann nach Walker zu suchen und ging durch die Gänge des Keep. Seine Schritte schabten leise auf dem Gestein. Vor sich konnte er das schwache Rauschen von etwas hören, das sich aus dem Innern des Schlosses erhob, ein leise polterndes Geräusch, ein Aufbrausen wie... Und dann wußte er es. Es war das Feuer, das den Keep vom Kern der Erde her unterhielt, Feuer, das all diese Zeit kalt und tot gewesen war und jetzt mit der Rückkehr von Paranor wieder zum Leben erwachte.
Er wandte sich dem Gang zu, der zu dem Schacht unter dem Keep führte.
In den Schatten vor ihm bewegte sich etwas.
Cogline verlangsamte seinen Schritt und blieb stehen. Rumor kauerte sich nieder und knurrte. Eine Gestalt materialisierte sich aus der Dunkelheit und trat aus einer Nische hervor, die das Sonnenlicht nicht erreichen konnte. Sie war ganz schwarz und ohne bestimmte Züge. Die Gestalt näherte sich, das Licht ließ sie deutlicher werden, und ein Mann in einer Kutte mit einer Kapuze trat groß und dünn vor die Dunkelheit und bewegte sich langsam, aber zielbewußt auf ihn zu.
»Walker?« fragte Cogline.
Der andere antwortete nicht. Als er nur noch kaum ein Dutzend Fuß von ihm entfernt war, blieb er stehen. Rumors Knurren war nur noch ein schwerer Atem. Der Arm des Mannes hob sich, und er zog die Kapuze zurück.
»Sage mir, was du siehst«, sagte Walker Boh.
Cogline sah ihn an. Es war Walker, und doch war er es auch wieder nicht. Seine Züge waren dieselben, aber er war irgendwie größer, und sogar mit seiner weißen Haut schien er so schwarz wie nasse Asche, sein Gesichtsausdruck so dunkel, daß es schien, als würde er jegliches herannahende Licht aufsaugen. Sein Körper machte sogar unter der Kleidung den Eindruck, als sei er gepanzert. Sein linker Arm fehlte noch immer. Seine rechte Hand hielt den Schwarzen Elfenstein.
»Sage es mir«, bat Walker ihn erneut.
Cogline schaute in seine Augen. Sie waren eben und hart und ohne Tiefe, und er hatte das Gefühl, als schauten sie direkt durch ihn hindurch.
»Ich sehe Allanon«, antwortete der alte Mann weich.
Ein Schaudern durchlief Walker Boh und verging wieder. »Er ist jetzt ein Teil von mir, Cogline. Das war es, was er zur Bewachung des Keep zurückgelassen hat, als er ihn aus den Vier Ländern fort sandte. Das war es, was mich in dem Nebel erwartete. Sie waren alle da, alle Druiden – Galaphile, Bremen, Allanon, alle. So haben sie ihr Wissen weitergegeben, einer an den anderen – es ist eine Art Verbindung des Geistes mit dem Fleisch. Bremen trug alles in sich, als er der letzte Druide wurde. Er gab es an Allanon weiter, der es dann wiederum an mich weitergab.«
Seine Augen strahlten, und es brannten Feuer darin, die Cogline sich nicht erklären konnte. »An mich!« schrie Walker Boh plötzlich auf. »Ihre Lehren, ihr Wissen, ihre Geschichte, ihren Wahnsinn – all das, dem ich so lange Zeit mißtraut und das ich umgangen habe! Er hat das alles an mich weitergegeben!«
Er zitterte, und Cogline hatte plötzlich Angst. Dieser Mann, den er so gut gekannt hatte, sein Schüler, zeitweise sein Freund, war jetzt jemand anderer, ein Mann, der so endgültig ein anderer war, wie der Tag sich zur Nacht wandelt.
Walkers Hand schloß sich über dem Schwarzen Elfenstein, als er ihn vor sich ausstreckte. »Es ist vollbracht, alter Mann, und es kann nicht ungeschehen gemacht werden. Allanon hat seine Druiden und seinen Keep jetzt wieder in der Welt der Menschen. Er hat die Aufgabe, die er mir gestellt hat, erfüllt bekommen. Und er hat seine Seele in mich versenkt!« Seine Hand senkte sich, als würde sie von einem Gewicht zu Boden gedrückt. »Er will, daß die Druiden in mir weiterleben. Brin Ohmsfords Vermächtnis. Er gab mir die Macht, sein Wissen, sein Verständnis, seine Geschichte. Er gab mir sogar sein Gesicht. Du siehst mich an, und du siehst ihn.«