»So etwas habe ich noch nie gesehen!« rief sie Tiger Ty enthusiastisch zu.
»Wartet, bis wir Morrowindl erreichen«, brummte er zurück. Am Nachmittag flogen sie ein zweites Mal zu einer kurzen Rast hinab und wählten dafür eine einsame Insel mit weiten, weißen Sandstränden und kleinen Buchten, die so flach waren, daß das Wasser helltürkis wirkte. Wren fiel auf, daß Spirit den ganzen Tag nichts gefressen hatte, und fragte danach. Tiger Ty sagte, Rock fresse Fleisch und jage es selbst. Er brauche nur einmal in sieben Tagen Nahrung.
»Ein sehr selbstgenügsamer Vogel, der Rock«, sagte der Flugreiter mit unverhüllter Bewunderung. »Er verlangt nicht viel mehr, als in Ruhe gelassen zu werden. Das ist mehr, als man von den meisten Menschen sagen kann.«
Sie setzten ihre Reise schweigend fort, denn sowohl Wren als auch Garth begannen zu ermüden. Sie waren steif von der Anstrengung, den ganzen Tag über in derselben Haltung sitzen zu müssen, erschöpft von der ständigen, schaukelnden Bewegung des Fluges, und ihre verkrampften Finger schmerzten vom Umklammern der geknüpften Handgriffe. Das Wasser der Blauen Spalte floß beständig unter ihnen vorbei, eine endlose Bewegung von Wellen. Sie konnten das Festland schon seit Stunden nicht mehr ausmachen, dagegen schien sich das Meer endlos zu erstrecken. Wren fühlte sich dadurch klein werden, von seinem Ausmaß reduziert zu etwas so Unbedeutendem, daß sie zu verschwinden drohte. Das anfängliche Gefühl der Verlassenheit hatte mit jeder Stunde, die verstrich, beständig zugenommen, und sie fühlte zum ersten Mal Zweifel aufkommen, ob sie ihre Heimat jemals wiedersehen würde.
Die Sonne versank schon fast, als sie schließlich in Sichtweite an Morrowindl herankamen. Die Sonne war im Westen zum Rande des Horizonts hinabgeglitten, ihr Licht war milde geworden und hatte sich von Weiß zu einem hellen Orange gewandelt. Ein purpur- und silberfarbener Streifen säumte eine lange Reihe seltsam geformter Wolken, die über den Himmel promenierten wie fremdartige Tiere. Vor diesem Panorama hob sich die Insel als Silhouette ab, dunkel umwölkt und drohend. Sie war bedeutend größer als jede andere Landfläche, auf die sie bisher gestoßen waren, und erhob sich vor ihnen wie eine Mauer, als sie näher kamen. Der Killeshan hob seinen gezackten Schlund himmelwärts, Dampf sickerte aus seiner Kehle, und seine Hänge waren bedeckt von einer dicken Decke aus Nebel und Asche, hinter der sie für Hunderte von Fuß verschwanden, bis sie an einer Küstenlinie wieder sichtbar wurden, die aus felsigen Vorsprüngen und zerklüfteten Klippen bestand. Wellen krachten gegen die Felsen, weiße Schaumkessel, deren Gischt himmelwärts stob.
Spirit flog näher heran und stieß auf das Leichentuch aus Vog hinab. Gestank erfüllte die Luft und der Geruch von Schwefel drang dort aus der Erde herauf, wo das Feuer des Vulkans Fels zu Asche verbrannte. Durch die Wolken und den Nebel konnten sie Täler und Grate, Pässe und Schluchten sehen, die alle dicht bewaldet waren: einen dichten, beengenden Dschungel. Tiger Ty schaute über die Schulter zurück und machte ihnen Zeichen. Sie würden die Insel umrunden. Spirit wandte sich auf sein Kommando nach rechts. Das Nordende der Insel war in strömendem Regen verschwunden, in einem Monsun, der alles überflutete und riesige Wasserfälle bildete, die von mehreren Tausend Fuß Höhe die Klippen hinabstürzten. Im Westen dagegen war die Insel so karg wie eine Wüste. Es war nur Lavagestein zu sehen mit einigen verstreut stehenden, strahlend blühenden Sträuchern und verkrüppelten, knorrigen, windgepeitschten Bäumen. Im Süden und Osten bestand die Insel aus einer Vielzahl einzelner Felsformationen und aus Stranden mit schwarzem Sand, wo die Küstenlinie mit dem Wasser der Blauen Spalte zusammentraf, bevor sie sich erhob, um im Dschungel und im Nebel zu verschwinden.
Wren starrte angestrengt auf Morrowindl hinab. Es war ein bedrohlicher, wenig gastfreundlicher Ort, ein scharfer Kontrast zu den anderen Inseln, die sie gesehen hatten. Wolkentürme trafen aufeinander und brachen auseinander. Jede Seite der Insel bot unterschiedliche Bedingungen. Die Insel insgesamt war schattig und bewölkt, als sei Killeshan ein Dämon, der Feuer atmet und sich in einen Umhang gewickelt hat, der aus seinem eigenen erstickenden Atem besteht.
Tiger Ty dirigierte Spirit noch ein letztes Mal um die Insel herum und befahl ihm dann, er solle landen. Der Rock setzte am Rande eines breiten Strandes mit schwarzem Sand vorsichtig auf, seine Klauen bohrten sich in das geborstene Lavagestein, und er legte widerstrebend seine Flügel an. Dabei wandte der Riesenvogel sein Gesicht dem Dschungel zu, und seine spähenden Augen suchten den Nebel zu durchdringen.
Tiger Ty wies sie an, sie sollten absteigen. Sie lösten ihre Harnischriemen und glitten zu Boden. Wren schaute landeinwärts. Die Insel aus Felsen, Bäumen und Nebel erhob sich vor ihnen. Sie konnten die Sonne nicht mehr sehen. Schatten und Halblicht lag über allem.
Der Flugreiter sah das Mädchen an. »Ich vermute, Ihr wollt es immer noch? Starrsinnig wie eh und je?«
Sie nickte schweigend, denn sie wollte im Moment nicht reden.
»Dann hört zu. Und überlegt Euch, ob Ihr Eure Meinung noch ändern wollt, während Ihr das tut. Ich habe Euch aus gutem Grund alle vier Seiten von Morrowindl gezeigt. Im Norden regnet es ständig, jeden Tag, jede Stunde des Tages. Manchmal regnet es stark, manchmal nieselt es. Aber das Wasser ist überall. Sumpf und Teiche, Wasserfalle und Rinnsaale. Wenn Ihr nicht schwimmen könnt, ertrinkt Ihr. Und es gibt ohnehin unendlich viele Wesen, die Euch dort hinabziehen wollen.«
Er machte eine Geste. »Im Westen gibt es nur Wüste. Das habt Ihr gesehen. Nichts als offenes Land, heiß und trocken und öde. Ihr denkt wahrscheinlich, Ihr könntet es bis zur Spitze des Berges durchwandern. Das Dumme ist nur, daß Ihr keine Meile weit kommt, ohne den Wesen über den Weg zu laufen, die unter den Felsen leben. Ihr würdet sie jedoch gar nicht sehen. Sie würden Euch erwischen, bevor Ihr denken könnt. Es gibt Tausende von ihnen, in allen Größen und Formen, die meisten davon mit einem Gift, das Euch schnell töten kann. Nichts und niemand gelangt dort hindurch.«
Das Stirnrunzeln von Tiger Ty vertiefte die Linien seines zerfurchten Gesichtes noch weiter. »Also bleiben der Süden und der Osten, die zufälligerweise ziemlich ähnlich sind. Felsen und Dschungel und Vog und viele unerfreuliche Wesen, die darin leben. Wenn Ihr erst einmal diesen Strand verlassen habt, seid Ihr bis zu Eurer Rückkehr nicht mehr sicher. Ich habe Euch schon einmal gesagt, daß das Inland eine Todesfalle ist. Ich sage es Euch noch einmal, falls Ihr es nicht gehört habt.«
»Mein Fräulein«, sagte er weich. »Tut es nicht. Ihr habt keine Chance.«
Sie streckte impulsiv die Hand aus und nahm seine knorrigen Hände in ihre eigenen. »Garth und ich werden aufeinander aufpassen«, versprach sie. »Das tun wir schon seit langer Zeit.«
Er schüttelte den Kopf. »Das wird nicht genügen.«
Sie festigte ihren Griff. »Wie weit müssen wir ziehen, um die Elfen zu finden? Könnt Ihr uns das ungefähr sagen?«
Er entzog ihr seine Hände und deutete landeinwärts. »Ihre Stadt, wenn es sie noch gibt, liegt auf halbem Weg auf dem Berghang in einer Nische, die vor den Lavaströmen geschützt ist. Die meisten der Ströme verlaufen nach Osten, und einige davon graben Tunnel unter den Fels zum Meer. Von hier aus sind es vielleicht dreißig Meilen. Ich kann jetzt nicht mehr sagen, wie das Land dort drinnen beschaffen ist. Zehn Jahre verändern vieles.«
»Wir werden unseren Weg finden«, sagte sie. Sie atmete tief ein, um sich selbst zu beruhigen, und bemerkte, wie nutzlos dieser Versuch war. Sie schaute zu Garth, der in ihr versteinertes Gesicht blickte. Dann sah sie erneut Tiger Ty an. »Ich muß Euch noch etwas fragen. Werdet Ihr hierher zurückkommen? Werdet Ihr uns genügend Zeit für unsere Suche geben und dann zurückkommen?«