Tiger Ty verschränkte die Arme. Sein ledriges Gesicht sah sowohl traurig als auch unnachgiebig aus. »Ich werde kommen, mein Fräulein. Ich werde drei Wochen warten – genug Zeit für Euch, hineinzugelangen und wieder herauszukommen. Dann werde ich vier Wochen lang einmal pro Woche nach Euch Ausschau halten.« Er schüttelte den Kopf. »Aber ich muß Euch sagen, daß ich das für Zeitverschwendung halte. Ihr werdet nicht zurückkommen. Ich werde Euch niemals wiedersehen.«
Sie lächelte tapfer. »Ich werde einen Weg finden, Tiger Ty.«
Die Augen des Flugreiters verengten sich. »Nur einen Weg. Ihr solltet lieber boshafter und stärker sein als alles, was Euch über den Weg läuft. Und...« Er stupste sie mit seinem knochigen Finger an. »... Ihr solltet lieber darauf vorbereitet sein, Eure Magie zu gebrauchen!«
Er wandte sich abrupt um und stolzierte zu dem wartenden Spirit hinüber. Ohne innezuhalten zog er sich an den Harnischriemen hinauf und nahm seinen Platz ein. Als er seine Sicherheitsgurte befestigt hatte, schaute er zu ihnen zurück.
»Versucht nicht, bei Nacht hineinzugehen«, riet er. »Reist zumindest am ersten Tag im Hellen. Laßt Killeshans Krater zu Eurer Rechten, wenn Ihr aufsteigt.« Er hob die Hände. »Bei Dämons Blut! Ihr seid im Begriff, etwas ganz Dummes zu tun!«
»Vergeßt uns nicht, Tiger Ty!« rief Wren als Antwort. Der Flugreiter sah sie einen Augenblick stirnrunzelnd an und stieß Spirit dann leicht in die Seite. Der Rock erhob sich in die Luft, seine Flügel breiteten sich vor dem Wind aus, und er stieg langsam auf und wandte sich gen Süden. Innerhalb von Sekunden war der Riesenvogel zu nicht mehr geworden als einem Fleck im verblassenden Licht.
Wren und Garth standen schweigend auf dem leeren Strand und sahen ihm nach, bis der Fleck verschwunden war.
6
Sie blieben in dieser Nacht am Strand, womit sie dem Rat Tiger Tys folgten, zu warten, bis der Tag begann. Erst dann wollten sie landeinwärts starten. Sie wählten einen Platz ungefähr eine Viertelmeile nördlich von der Stelle, an der der Flugreiter sie abgesetzt hatte, um ihr Lager aufzuschlagen. Es war eine weite, offene Fläche mit schwarzem Sand, an der die Gezeitenlinie mehr als Hundert Fuß vom Rand des Dschungels entfernt endete. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, die Sonne war unter dem Horizont verschwunden, und ihr schwächer werdendes Licht wurde zu einem schwachen Schimmer über den Meereswogen. Als die Dunkelheit herabsank, überflutete hellsilbernes Licht vom Mond und den Sternen den leeren Strand. Es wurde vom Sand zurückgestrahlt, als seien dort Diamanten ausgestreut, und erhellte die Küstenlinie, so weit das Auge sehen konnte. Daher beschlossen sie auch gleich, kein Feuer zu entfachen. Weder Licht noch Hitze wurden benötigt. Von der Stelle auf dem offenen Strand aus, wo sie sich jetzt befanden, konnten sie sehen, wenn sich etwas zu nähern versuchte, und die Luft war warm und mild. Ein Feuer würde nur die Aufmerksamkeit auf sie ziehen, und das wollten sie nicht. Sie aßen eine kalte Mahlzeit aus getrocknetem Fleisch, Brot und Käse und spülten alles mit Bier hinunter. Sie saßen dem Dschungel gegenüber, mit dem Rücken zum Meer, und lauschten und beobachteten. Morrowindl verlor seine Konturen, als die Nacht hereinbrach, die Linien des Dschungels und der Klippen und der Wüste verschwanden in der Dunkelheit, bis die Insel schließlich kaum mehr als eine Silhouette vor dem Himmel war. Schließlich verschwand sogar diese, und alles, was blieb, war ein beständiges Gewirr von Lauten. Die waren größtenteils nicht unterscheidbar, schwach und unterdrückt, verstreute Rufe und Heulen und Summen von Vögeln und Insekten und Tieren, die alle in der Schutz bietenden Dunkelheit verborgen waren. Das Wasser der Blauen Spalte lief in stetigem Rhythmus auf die Strande der Insel hinauf, wusch sie aus und zog sich wieder zurück, ein langsames und beständiges Plätschern. Eine Brise kam auf, sanft und wohlriechend, und sie vertrieb die letzten Reste der Hitze des Tages.
Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatten, starrten sie eine Weile schweigend hinaus – auf den Himmel und den Strand und das Meer, auf nichts.
Bereits jetzt erreichte Morrowindl, daß sich Wren unbehaglich fühlte. Sogar jetzt, eingehüllt in Dunkelheit, unsichtbar und schlafend, wirkte die Insel bedrohlich. Sie stellte sie sich in Gedanken vor: Killeshan, der sich mit seinem zerklüfteten, geöffneten Schlund gen Himmel erhob, und die dschungelbewachsenen Hänge, turmhohen Klippen und öden Wüsten. Die Insel wie ein angeketteter Gigant, der in Vog und Nebel eingehüllt war und wartete. Sie konnte seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren, begierig und hungrig. Sie konnte ihn zur Begrüßung zischen hören.
Sie konnte fühlen, wie er sie beobachtete.
Es ängstigte sie mehr, als sie zugeben wollte, und sie konnte ihre Angst nicht völlig unterdrücken. Sie war ein heimtückischer Schatten, der durch die Gänge ihrer Gedanken kroch und Worte flüsterte, deren Bedeutung unverständlich, deren Absicht aber eindeutig war. Sie fühlte sich ganz eigentümlich, all ihrer Fähigkeiten und ihres Könnens beraubt, als sei alles in dem Moment, in dem sie angekommen war, von ihr abgestreift worden. Sogar ihre Instinkte schienen durcheinander geraten zu sein. Sie konnte es nicht erklären. Es ergab keinen Sinn. Es war nichts geschehen, und doch war sie hier, mit zerrissenem Selbstvertrauen, das wie Stroh verstreut war. Eine andere Frau hätte vielleicht Trost in der Tatsache gefunden, daß sie die legendären Elfensteine besaß – aber nicht Wren. Die Magie war ihr fremd. Für sie war sie eine Sache, der man mißtrauen sollte. Sie gehörte einer Vergangenheit an, von der sie nur gehört hatte, einer Geschichte, die Generationen lang verloren gewesen war. Sie gehörte jemand anderem, jemandem, den sie nicht kannte. Die Elfensteine, dachte sie düster, hatten nichts mit ihr zu tun.
Die Worte weckten ein Gefühl von Kälte in ihrer Magengrube. Natürlich waren sie eine Lüge.
Sie legte die Hände vors Gesicht und verbarg sich so. Zweifel krochen von allen Seiten auf sie zu, und obwohl es jetzt sinnlos war, fragte sie sich kurz, ob ihre Entscheidung, nach Morrowindl zu kommen, nicht falsch gewesen war.
Schließlich nahm sie die Hände herunter und beugte sich vor, bis sie in der Dunkelheit Garths bärtiges Gesicht deutlich sehen konnte. Der große Mann beobachtete unbewegt, wie sie ihre Hände hob und zu gestikulieren begann.
»Glaubst du, ich habe einen Fehler gemacht, als ich darauf bestanden habe, daß wir herkommen?« fragte sie ihn. Er betrachtete sie einen Moment und schüttelte dann den Kopf. Es ist niemals ein Fehler, etwas zu tun, was man für notwendig hält.
»Ich habe es für notwendig gehalten.«
Ich weiß.
»Aber ich bin nicht nur hergekommen, um herauszufinden, ob die Elfen noch am Leben sind«, sagte sie in der Zeichensprache. »Ich kam auch, um etwas über meine Eltern herauszufinden, um zu erfahren, wer sie waren und was aus ihnen geworden ist.«
Er nickte schweigend.
»Ich brauchte mich nicht zu sorgen, weißt du«, versuchte sie ihm weiter zu erklären. »Es war nicht notwendig, etwas anders zu machen. Ich war eine Fahrende, und das war genug. Sogar noch, nachdem Cogline uns gefunden hatte und wir ostwärts zum Hadeshorn zogen und den Schatten Allanons trafen. Und sogar noch, als ich begann, nach den Elfen zu fragen. In der Hoffnung, etwas über ihr Schicksal zu erfahren, habe ich noch nicht an meine Eltern gedacht. Ich hatte keine Vorstellung davon, wohin das alles führen würde. Ich ging einfach weiter, stellte meine Fragen und erfuhr schließlich von der Addershag und dann von dem Signalfeuer. Ich folgte einfach einem Weg und war neugierig, wohin er führte.«
Sie machte eine Pause. »Aber die Elfensteine, Garth – das war etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Als ich entdeckte, daß sie wirklich waren – daß es die Elfensteine von Shea und Will Ohmsford waren –, änderte sich alles. So viel Macht – und sie gehörten meinen Eltern. Warum? Wieso hatten meine Eltern sie? Was bezweckten sie damit, sie mir zu geben? Das verstehst du, nicht wahr? Ich werde niemals Antworten bekommen, außer wenn ich herausfinde, wer meine Eltern waren.«