Weit unterhalb der Stelle, an der sie stand, fast am Ende des Keel, wo er unter die gehärtete Lava irgendeines früheren Ausbruchs reichte, war ein plötzliches Aufflackern von Licht zusehen – ein Aufflammen, dem eine schnelle, gleißende Explosion folgte. Und ein Schrei. Es waren kurze Rufe zu hören und dann Stille. Ein weiterer Versuch, die Mauern zu überwinden, und ein weiterer Tod. Es war ein allnächtliches Vorkommnis, jetzt, wo die Lebewesen mutiger wurden und die Magie weiter nachließ. Sie schaute sich um. Sie sah, wie sich die obersten Zweige des Ellcrys über die Bäume der Gärten erhoben, wie ein lebender Baldachin. Der Baum hatte die Elfen so lange vor so vielem beschützt. Er hatte erneuert und wiederhergestellt. Er hatte Frieden vermittelt. Aber nun konnte er sie nicht mehr beschützen, nicht gegen das, was sie jetzt bedrohte.
Nicht gegen sich selbst.
Sie ergriff trotzig den Ruhkstab und fühlte die Magie darin wogen. Es war ein Gefühl der Wärme an ihrer Handfläche und ihren Fingern. Der Stab war dick und knorrig und auf hellen Glanz poliert. Er war aus schwarzem Walnußholz gehauen und mit der Magie ihres Volkes getränkt. An seiner Spitze befand sich der Loden, weiße Helligkeit vor der Dunkelheit der Nacht. Sie konnte sich selbst in seinen Facetten gespiegelt sehen. Sie konnte sich selbst hineinreichen sehen. Der Ruhkstab hatte den Herrschern von Arborlon mehr als ein Jahrhundert lang Kraft gegeben. Aber auch der Stab konnte die Elfen nicht mehr beschützen.
»Cort?« rief sie leise.
Der Leibgardist materialisierte sich neben ihr.
»Bleibt einen Moment bei mir stehen«, sagte sie.
Sie schauten schweigend über die Stadt. Die Königin fühlte sich unsagbar allein. Ihr Volk war von der Auslöschung bedroht. Sie sollte etwas tun. Irgend etwas. Was, wenn sich die Träume irrten? Was, wenn die Visionen von Eowen Cerise trogen? Das war selbstverständlich noch nie geschehen, aber es stand so vieles auf dem Spiel! Ihr Mund verhärtete sich ärgerlich. Sie mußte glauben. Es war entscheidend, daß sie glaubte. Die Visionen würden wahr werden. Wie versprochen würde das Mädchen zu ihnen kommen. Blut ihres Blutes. Das Mädchen würde erscheinen.
Aber würde das genügen?
Sie schüttelte die Frage ab. Sie durfte sie nicht zulassen. Sie durfte ihre Verzweiflung nicht zulassen.
Sie wandte sich um und ging rasch durch die Gärten zurück zu dem Weg, der wieder hinabführte. Cort blieb einen Moment bei ihr und verschwand dann in die Schatten. Sie sah ihn nicht gehen. Ihre Gedanken waren auf die Zukunft gerichtet, auf die Vorhersagen Eowens und auf das Schicksal des Elfenvolkes. Sie war davon überzeugt, daß ihr Volk überleben würde. Sie würde auf das Mädchen warten, so lange sie konnte, so lange die Magie die Feinde fernhielt. Sie würde darum beten, daß sich Eowens Visionen bewahrheiteten.
Sie war Ellenroh Elessedil, die Königin der Elfen, und sie würde tun, was sie tun mußte.
Feuer.
Es brannte auch in ihr.
Eingehüllt in die Rüstung ihres Wissens ging sie in den geruhsamen Stunden des frühen Morgens hinunter und hinaus aus den Gärten des Lebens, um sich zur Ruhe zu begeben.
2
Wren Ohmsford gähnte. Sie saß auf einer Klippe und sah über die Blaue Spalte, den Rücken an den glatten Stamm einer uralten Weide gelehnt. Das Meer erstreckte sich vor ihr, ein schimmerndes Kaleidoskop von Farben am Rande des Horizonts, wo der Sonnenuntergang das Wasser mit roten und goldenen und purpurfarbenen Spritzern zierte und tiefhängende Wolken seltsame Muster vor dem dunkler werdenden Himmel bildeten. Ein Halbdunkel breitete sich geruhsam aus, ein Grauwerden des Lichts, das Wispern einer Abendbrise vom Wasser her, ein ruhiges Herabsinken. Grillen begannen zu zirpen, und flimmernd kamen Glühwürmchen in Sicht.
Wren zog die Knie bis zur Brust hoch, denn sie kämpfte darum, aufrecht sitzen zu bleiben, da sie sich in Wirklichkeit viel lieber hingelegt hätte. Sie hatte jetzt schon fast zwei Tage lang nicht geschlafen, und die Müdigkeit holte sie allmählich ein. Es war schattig und kühl auf diesem Platz unter dem Baldachin der Weide, und es wäre leicht gewesen, loszulassen, hinabzusinken, sich neben ihrer Rinde zusammenzurollen und zu entgleiten. Ihre Augen schlössen sich unfreiwillig bei diesem Gedanken, wurden aber dann sofort wieder aufgerissen. Sie konnte nicht schlafen, solange Garth nicht zurückgekehrt war, das wußte sie. Sie mußte wachsam bleiben.
Sie erhob sich und verließ den Rand der Klippe. Sie spürte die Brise auf ihrem Gesicht und ließ die Wohlgerüche des Meeres ihre Sinne erfüllen. Kraniche und Möwen glitten über das Wasser und stießen herab, anmutig und träge in ihrem Flug. Weit draußen, zu weit, als daß man es deutlich hätte sehen können, zerteilte irgendein großer Fisch mit kraftvollem Schwung das Wasser und verschwand. Sie ließ ihren Blick wandern. Ohne Unterbrechung führte die Küstenlinie von der Stelle, wo sie stand, soweit, wie sie sehen konnte: zerklüftete, baumbestandene Klippen, von den starren, weißbehüteten Bergen des Rock Spur im Norden und dem Irrybis im Süden gestützt. Eine Reihe felsiger Strande trennte die Klippen vom Wasser, am Flutsaum waren sie mit Treibholz und Muscheln und Strängen von Meeresalgen übersät.
Jenseits der Strände war nur die leere Weite der Blauen Spalte. Ich bin bis ans Ende der bekannten Welt gereist, dachte sie bekümmert, und noch immer dauerte die Suche nach den Elfen an.
Eine Eule schrie in den tiefen Wäldern hinter ihr und brachte sie dazu, sich umzuwenden. Sie spähte vorsichtig umher, ob sich etwas bewegte, suchte nach einem Hinweis auf eine Störung und fand keinen. Es gab auch kein Zeichen auf Garth. Er war noch immer draußen auf Spurensuche...
Sie schlenderte zurück zu der verglimmenden Asche der Kohlen und trat die Überreste mit ihrem Stiefel aus. Garth hatte jede Art offenen Feuers verboten, bis er sich versichert hatte, daß sie in Ruhe gelassen wurden. Er war den ganzen Tag gereizt und mißtrauisch gewesen, beunruhigt durch etwas, das keiner von ihnen sehen konnte. Ihn quälte ein Gefühl, daß irgend etwas nicht richtig sei. Wren neigte dazu, seine Unruhe seinem Mangel an Schlaf zuzuschreiben. Andererseits waren Garths Vorahnungen selten falsch gewesen. Wenn er beunruhigt war, dann spürte sie es, ohne ihn fragen zu müssen.
Sie wünschte, er würde zurückkehren.
Inmitten der Bäume hinter der Klippe befand sich ein Teich, und sie ging hin, kniete sich nieder und benetzte ihr Gesicht mit Wasser. Die Oberfläche des Teichs kräuselte sich bei der Berührung durch ihre Hände und glättete sich wieder. Sie konnte sich selbst auf dem Wasser gespiegelt sehen, als sich die Verzerrung auflöste, bis ihr Bild fast einem Spiegelbild entsprach. Sie starrte darauf hinab – auf ein kaum erwachsenes Mädchen, mit entschieden elfischen Zügen, mit scharf gespitzten Ohren, schrägstehenden Brauen, einem schmalen Gesicht mit hohen Wangenknochen und nußbrauner Haut. Sie sah haselnußbraune Augen, die selten stillstanden, ein halbes Lächeln, das zeigte, daß sie sich einen ganz persönlichen Spaß machte, und aschblondes Haar, das kurz geschnitten und stark gelockt war. Es war eine Gespanntheit in ihr, so dachte sie – eine Anspannung, die nicht vergehen würde, unabhängig davon, wie sehr auch immer sie sich darum bemühen würde.
Sie wippte auf ihren Fersen und erlaubte sich noch ein leichtes Lächeln, während sie entschied, daß sie das, was sie sah, genug mochte, um noch ein wenig länger damit zu leben.
Sie faltete die Hände im Schoß und senkte den Kopf. Die Suche nach den Elfen – wie lange dauerte sie nun schon? Wir lange war es her, daß der alte Mann – der behauptete, Cogline zu sein – zu ihr gekommen war und von den Träumen gesprochen hatte? Wochen? Aber wie viele? Sie hatte das Zeitgefühl verloren. Der alte Mann hatte von den Träumen gewußt und sie aufgefordert, selbst die dahinter liegende Wahrheit herauszufinden. Und sie hatte beschlossen, seine Herausforderung anzunehmen, zum Hadeshorn im Tal von Shale zu gehen und den Schatten Allanons zu treffen. Warum sollte ich dies nicht tun, hatte sie sich gesagt. Vielleicht würde sie etwas darüber erfahren, woher sie kam, über ihre Eltern, die sie nie gekannt hatte, oder über ihre Geschichte.