Am Rande ihres Sichtkreises blieben die Schatten spürbar. Sie waren dort, verstohlen, vorsichtig, eine Versammlung eiliger und formloser Geister, die dort waren, bis man nach ihnen schaute, und dann verschwanden. Garth schien ihre Gegenwart nicht zu bemerken, aber Wren wußte, daß dieser Eindruck täuschte. Wenn sie von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick auf sein dunkles Gesicht warf, konnte sie die Ruhe sehen, die sich in seinen Augen zeigte. Sie wunderte sich, daß ihr großer Freund alles so vollständig ausschließen konnte. Ihre eigenen Augen suchten unaufhörlich den Nebel ab, denn sogar jetzt war sie sich noch immer nicht sicher, wie sehr die Wesen, die sich dort verbargen, die Elfensteine fürchteten, wie lange die Magie sie in Schach halten würde. Ihre Finger irrten unentwegt über ihre Tunika und den darunter liegenden Lederbeutel, um sich zu vergewissern, daß ihr Schutz noch immer da war.
Der Tag ging langsam zu Ende. Sie kamen durch Wälder aus Koaakazien und Banyans, die alt waren und von Moos und Weinranken struppig, an Berghängen entlang, an denen das Lavagestein gesprungen und in lose Brocken zerbrochen war, die zerbarsten und davonrollten, wenn sie versuchten, einen Halt zu finden. Sie stiegen in Schluchten hinab, in denen das Gestrüpp dornig war, und bahnten sich ihren Weg durch Täler, über die sich schwere Wolken als undurchdringliche Decke aus Grau gelegt hatten. Dabei kletterten sie unaufhörlich weiter und bahnten sich ihren Weg die Hänge des Killeshan hinauf, wobei sie durch Löcher im Vog kurze Blicke auf den Vulkan werfen konnten, dessen Gipfel fortstrebte und niemals näher zu kommen schien.
Sie begannen mehr und mehr die Gefahren der Insel zu erkennen. Es gab bestimmte Pflanzen, bunt gefärbt und kompliziert geformt, die Fallen waren, die alles fingen, was in ihre Reichweite kam. Es gab Senkgruben, die einen im Handumdrehen verschlingen konnten, wenn man so unglücklich war, hineinzutreten. Es gab fremdartige Tiere, die sich kurz zeigten und dann wieder verschwanden, Jäger, schuppig und mit Stacheln versehen, mit Klauen und scharfen Zähnen. Es zeigten sich keine Monster, aber Wren vermutete, daß sie da waren, sie beobachteten und warteten, denn sie hörte die Geister ihnen aus dem Dunst zuflüstern.
Die Nacht kam, und sie schliefen, und dieses Mal näherten sich die Schatten nicht, sondern hielten sich sorgfältig versteckt. Eine Moorkatze schlich heran, und Garth blies auf einem dicken Grashalm, so daß ein Pfeifgeräusch entstand, das die große Katze aber anscheinend nicht kümmerte, und dann verklang. Wren träumte von ihrer Heimat, vom Westland, als sie noch jung war und alles neu um sie herum, und sie erwachte mit deutlichen und strahlenden Erinnerungen.
»Garth, ich habe die Elfensteine erneut gebraucht«, teilte sie ihm beim Frühstück mit, während sie sich beide gegen die düstere Kälte zusammenkauerten. »Vor zwei Nächten, als die Schatten das erste Mal auftauchten.«
Ich weiß, erwiderte er, und seine Augen suchten ihre, während er sprach. Ich war wach.
»Wieviel hast du gesehen?« flüsterte sie und schüttelte ungläubig den Kopf.
Genug. Die Magie ängstigt dich, nicht wahr?
Sie lächelte sinnend. »Alles, was wir tun, ängstigt mich.«
Sie gingen durch die Stille der Dämmerung, in Gedanken versunken. Das Land vor ihnen wurde flacher, und der Dschungel wich von ihnen zurück. Der Vog war hier dichter und lag beständig und unbeweglich vor ihnen. Die Luft war ruhig. Sie überquerten einen offenen Platz und fanden sich am Rande eines Sumpfes wieder. Vorsichtig gingen sie an seinem schilfbewachsenen Rand entlang und suchten nach festerem Untergrund. Als sie ihn fanden, kamen sie weiter voran. Der Sumpf blieb. Immer wieder waren sie gezwungen, die Richtung zu wechseln und nach einem sicheren Übergang zu suchen. Der Sumpf war ein dumpfer, flacher Schimmer von Feuchtigkeit, der sich über Unmengen von Gras und Unkräutern erstreckte. Bäume reckten sich daraus hervor wie die Beine ertrunkener Riesen. Fliegende Insekten summten glitzernd und irisierend darüber hinweg. Garth braute eine übelriechende Salbe, einen Schutz gegen Bisse und Stiche, mit der sie ihre Gesichter und Arme bedeckten. Schlangen glitten durch den Schlamm. Spinnen krabbelten überall herum, einige davon größer als Garths Faust. Spinnweben und Moos und Weinranken hingen von Zweigen und Gestrüpp herab und drohten mit tödlicher Umklammerung. Fledermäuse flogen durch das domhohe Laubgewölbe der Bäume, und ihr Kreischen klang schrill und bedrohlich.
Irgendwann stießen sie auf ein riesiges Spinnennetz, das über ihnen versteckt hing und wie eine Falle angebracht war, die auf alles, was darunter vorbeiging, fallen würde. Weniger erfahrene Jäger hätten es vielleicht nicht bemerkt und wären gefangen worden, aber Garth erspähte die Falle sofort. Die Fäden des Spinnennetzes waren so dick wie Wrens Finger und so durchsichtig, daß sie fast unsichtbar waren, wenn man sie nicht suchte. Sie klopfte mit einem Schilfstengel auf einen der Fäden, und der Schilfstengel blieb sofort haften. Wren und Garth spähten lange Zeit vorsichtig umher, ohne sich zu bewegen. Wer oder was auch immer dieses Netz gesponnen hatte, sie wollten ihm auf keinen Fall begegnen.
Schließlich waren sie beruhigt, daß der Netzbauer nicht in der Nähe war, und eilten weiter.
Es war fast Mittag, als sie das kratzende Geräusch hörten. Sie verlangsamten ihren Schritt und blieben schließlich stehen. Das Geräusch klang rauh und furchtbar, viel zu laut für die Stille des Sumpfs. Es übertönte alles. Es kam von links, wo die Schatten über einem Dickicht aus Büschen mit strahlend roten Blüten lagen. Unter Garths Führung gingen sie rechts an den Büschen vorbei und folgten einem Grat mit festem Untergrund zu einer Lichtung, die von Koaakazien begrenzt wurde. Sie bewegten sich leise vorwärts und lauschten, wo das kratzende Geräusch herkam. Fast augenblicklich sahen sie Fäden eines durchsichtigen Netzes, die sich von den Baumspitzen zur Erde zogen. Die Fäden vibrierten, als aus dem Gestrüpp heraus etwas dagegenstieß. Es war leicht zu erkennen, was geschehen war. Garth winkte Wren zu, und sie gingen vorsichtig weiter.
Bei den Koaakazien blieben sie erneut stehen. Eine Reihe von Fallen waren zwischen den Bäumen aufgestellt worden, eine große und mehrere kleine. Eine der kleineren Fallen hatte ihren Zweck erreicht. Das kratzende Geräusch kam von einem Wesen, das sie umschlossen hielt, während es versuchte, sich freizukämpfen. Das Wesen war ganz anders als alles, was Wren oder Garth jemals gesehen hatten. So groß wie ein kleiner Jagdhund, schien es so etwas wie eine Mischung aus einem Stachelschwein und einer Katze zu sein. Der Körper war mit schwarz und braun geringelten Stacheln bedeckt und wurde von vier kurzen, dicken Beinen getragen, während der quadratische Kopf, der halslos zwischen seinen Schultern kauerte, Haare wie Katzenfell und auch den stumpfen Umriß einer Katze aufwies. Runzlige Pfoten endeten in mächtigen, klauenartigen Fingern, die sich in den Boden gruben, und sein stummeliger, stachelbewehrter Schwanz schwang in dem wilden Versuch hin und her, die Fäden des Netzes zu zerreißen, in die das Wesen eingewickelt war. All seine Versuche waren vergeblich. Je heftiger es um sich schlug, um so mehr Fäden wickelten es ein. Schließlich hielt das Wesen inne und hob seinen Kopf. Erst jetzt bemerkte es sie. Wren war überrascht über die Augen dieses Wesens. Sie hatten Lider und Wimpern und waren strahlend blau. Es waren nicht die Augen eines Tieres. Es waren die Augen, die ihren eigenen glichen.
Der Körper des Wesens erschlaffte. Es war offenbar erschöpft von seinem Kampf. Die Stacheln lagen jetzt glatt an, und die fremdartigen Augen blinzelten.
»Pffft!« Das Wesen fauchte – ganz ähnlich wie eine Katze, an die es zumindest zum Teil erinnerte. »Ich glaube nicht, daß ihr in Erwägung zieht, mir zu helfen«, krächzte das Wesen leise.