»Immerhin trägst du einen Teil – arrggh – Verantwortung für meine mißliche Lage.«
Wren sah es an und schaute dann schnell hinüber zu Garth, der zum ersten Mal genauso überrascht schien wie sie. Wieso konnte dieses Wesen sprechen? Sie wandte sich wieder um. »Was meinst du damit, daß ich einen Teil der Verantwortung trage?«
»Rrrowwwggg. Ich meine, du bist ein Elf, nicht wahr?«
»Nun, nein, tatsächlich bin ich das nicht. Ich bin...« Sie zögerte. Sie hätte fast gesagt, sie sei eine Fahrende. Aber die Wahrheit war, daß sie zumindest zum Teil ein Elf war. Hatte das Wesen sie nicht dadurch erkannt – durch ihr Elfenaussehen? Sie runzelte die Stirn. Woher wußte es überhaupt etwas von Elfen?
»Wer bist du?« fragte sie.
Das Wesen taxierte sie einen Moment schweigend, ohne daß die blauen Augen blinzelten. Als es sprach, war seine Stimme ein tiefes Grollen. »Stresa.«
»Stresa«, wiederholte sie. »Ist das dein Name?«
Das Wesen nickte.
»Mein Name ist Wren. Und das ist mein Freund Garth.«
»Hssttt. Du bist ein Elf«, wiederholte Stresa, und das Gesicht der Katze verzog sich. »Aber du stammst nicht von Morrowindl.«
»Nein«, erwiderte sie. Sie stemmte verwirrt die Hände in die Hüften. »Woher weißt du das?«
Die blauen Augen blinzelten leicht. »Du erkennst mich nicht. Du weißt nicht, was ich bin. Grrrrr. Wenn du auf Morrowindl leben würdest, wüßtest du es.«
Wren nickte. »Also, was bist du?«
»Eine Stachelkatze – oder besser ein Stachelkater«, antwortete das Wesen. Es knurrte tief in seiner Kehle. »So werden wir genannt, die wenigen von uns, die übriggeblieben sind. Ein Teil hiervon, ein Teil davon, aber überwiegend ganz etwas anderes. Puurrft.«
»Und woher weißt du etwas von Elfen? Leben hier denn noch welche?«
Der Stachelkater betrachtete sie kühl. Geduldig wartete er in seiner Falle. »Wenn du mir hilfst freizukommen«, erwiderte er, und seine Stimme war ein tiefes Schnurren, »werde ich deine Fragen beantworten.«
Wren zögerte unentschlossen.
»Fffffft! Du solltest dich lieber beeilen«, riet er. »Bevor der Wisteron kommt.«
Der Wisteron? Wren sah Garth an und bedeutete ihm, er solle überdenken, was Stresa gesagt hatte. Garth antwortete kurz. Wren wandte sich wieder dem Wesen in der Falle zu. »Woher sollen wir wissen, daß du uns nicht verletzen wirst?« fragte sie den Stachelkater.
»Harrr. Wenn du nicht von Morrowindl stammst und von weit her gekommen bist, dann bist du gefährlicher als ich«, antwortete er, kam so nahe, wie er konnte und lachte. »Beeile dich endlich. Benutzt eure langen Messer, um das Netz zu zerschneiden. Nur mit der Schneide. Haltet die flache Seite der Klinge in die entgegengesetzte Richtung.« Das seltsame Wesen hielt inne, und Wren sah zum ersten Mal Anzeichen von Verzweiflung in seinen Augen. »Es ist nicht viel Zeit. Wenn ihr mir helft – grrrrr –, kann ich euch als Gegenleistung vielleicht auch helfen.«
Wren gab Garth ein Zeichen, und sie gingen hinüber zu der Stelle, wo der Stachelkater gefangen war. Dabei gaben sie sich große Mühe, keine der noch funktionierenden Fallen zu berühren. Sie arbeiteten schnell, durchschnitten die Fäden, die das Wesen umhüllten, und traten zurück. Stresa stieg munter über das heruntergefallene Netz und eilte an ihnen vorbei auf festen Untergrund. Er spreizte seine Stacheln und schüttelte sich heftig. Sowohl Wren als auch Garth wichen bei seiner plötzlichen Bewegung zurück, aber es flogen ihnen keine Stacheln entgegen. Der Stachelkater schüttelte nur die Reste des Netzes von sich, die an seinem Körper klebten. Er begann sich zu putzen und hielt erst inne, als er sich daran erinnerte, daß sie ihn beobachteten.
»Danke«, sagte er mit seiner leisen, ruhigen Stimme. »Wenn ihr mich nicht befreit hättet, wäre ich gestorben. Grrrrrr. Der Wisteron hätte mich gefressen.«
»Der Wisteron?« fragte Wren.
Der Stachelkater legte seine Stacheln an und überhörte ihre Frage. »Ihr solltet selbst auch längst schon tot sein«, erklärte er. Das Katzengesicht legte sich erneut in Falten. »Pfffft!« fauchte er. »Entweder hattet ihr großes Glück, oder ihr besitzt den Schutz der Magie. Was ist es?«
Wren zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. »Du hast versprochen, meine Fragen zu beantworten, Stresa. Erzähle mir von den Elfen.«
Der Stachelkater kauerte sich zusammen und setzte sich. Er war größer, als er in der Falle gewirkt hatte, wirklich eher so groß wie ein Hund als wie eine Katze oder ein Stachelschwein, wonach er sonst aussah. »Die Elfen«, sagte er, und das Grollen mischte sich wieder in seine Stimme, »leben landeinwärts, hoch oben auf den Hängen des Killeshan in der Stadt Arborlon – grrrrr –, da halten die Dämonen sie gefangen.«
»Dämonen?« fragte Wren und dachte sofort an jene, die vom Ellcrys im Schrecklichen eingeschlossen worden waren. Sie waren zu Zeiten Will Ohmsfords schon einmal ausgebrochen. War das wieder geschehen? »Wie sehen diese Dämonen aus?« fragte sie gepreßt.
»Sssssttt! Wie viele verschiedene Wesen. Welchen Unterschied macht das? Der Punkt ist der, daß die Elfen sie gemacht haben und sie jetzt nicht wieder loswerden können. Pfffft! Zu schlimm für die Elfen. Die Magie des Keel versagt allmählich. Es wird nicht lange dauern, bis alles vorbei ist.«
Der Stachelkater wartete, während Wren die Neuigkeiten zu verarbeiten suchte. Es gab noch immer zu vieles, was sie nicht verstand. »Die Elfen haben die Dämonen gemacht?« wiederholte sie verwirrt.
»Vor Jahren. Als sie es nicht besser wußten.«
»Aber... woraus haben sie sie denn gemacht?«
Stresas Zunge fuhr heraus, dunkel violett vor seinem braunen Gesicht. »Warum seid ihr überhaupt hierher gekommen – grrrrr? Warum sucht ihr nach den Elfen?«
Wren spürte Garths Hand auf ihrer Schulter, die sie mahnte, daß Vorsicht geboten sei. Sie wandte sich um und sah, daß er in den Dschungel zeigte.
»Hssttt, ja, ich höre es auch«, verkündete Stresa und erhob sich eilig. »Der Wisteron. Er beginnt seine Jagd. Als erstes wird er seine Fallen nach Nahrung untersuchen. Wir müssen schnell von hier fort. Wenn er erst einmal entdeckt hat, daß ich entkommen bin, wird er mich suchen.« Der Stachelkater schüttelte seine Stacheln. »Da ihr euren Weg anscheinend nicht kennt, solltet ihr mir lieber folgen.«
Er lief sofort los. Wren beeilte sich, Schritt zu halten, Garth folgte. »Warte einen Moment! Welche Art Lebewesen ist dieser Wisteron?« fragte sie.
»Es ist besser für euch, wenn ihr es niemals erfahrt«, erwiderte Stresa geheimnisvoll, und alle seine Stacheln standen hoch. »Dieser Sumpf wird der In Ju genannt. Der Wisteron hat hier seine Heimat. Der In Ju erstreckt sich ganz zum Blackledge – und das ist ein riesiges Gebiet. Phffffft.«
Er watschelte davon und bewegte sich dabei weitaus schneller, als Wren erwartet hatte. »Ich verstehe immer noch nicht, wieso du soviel über die Elfen weißt«, sagte sie und hastete hinter ihm her. »Oder wie es kommt, daß du überhaupt sprechen kannst. Kann alles auf Morrowindl sprechen?«
Stresa schaute zurück. Sein Katzenblick war scharf und wissend. »Rrraaaaa – habe ich vergessen, dir das zu sagen? Der Grund dafür, daß ich sprechen kann, ist der, daß die Elfen auch mich gemacht haben. Hsssstt.« Der Stachelkater wandte sich ab.
»Genug gefragt im Moment. Es ist besser, wenn wir eine Weile ruhig sind.«
Er lief schnell in den Wald, so leise wie Rauch, so daß Wren und Garth nichts anderes blieb, als ihm zu folgen, während er über ihre Verwirrung und ihren Unglauben nachdachte.
7
Sie flohen eilig und leise durch den In Ju. Der Stachelkater führte sie. Sein bräunlicher Körper watschelte vor ihnen durch Gebüsch und Gräser, unter Dornengestrüpp hindurch und über Baumstämme, als sei alles dasselbe, ein einziges Hindernis, das zu überwinden jeweils denselben Kraftaufwand erforderte. Wren und Garth folgten, wobei sie gezwungen waren, den schwierigeren Boden zu umgehen, ihren Weg sorgfältiger zu wählen und den Boden zu prüfen, bevor sie darauf traten. Es gelang ihnen nur, Schritt zu halten, weil Stresa geistesgegenwärtig genug war, sich hin und wieder nach ihnen umzusehen und zu warten, bis sie aufgeschlossen hatten. Keiner von ihnen sprach, während sie vorwärts eilten, aber sie alle lauschten sorgfältig darauf, ob Geräusche verrieten, daß der Wisteron sie verfolgte.