Der Dschungel wurde dunkler, und überall tauchten Spinnweben auf. Viele erwiesen sich als Überbleibsel von Fallen, die schon vor langer Zeit zerrissen oder zerfallen waren, aber genauso viele bildeten Auslöser für Netze, die zwischen den Baumspitzen, über das Gestrüpp und sogar über Vertiefungen im Boden gespannt waren. Die Spinnweben waren durchsichtig und unsichtbar, außer dort, wo sie an Blättern oder Erde hafteten und Farbe oder Umriß bekamen, und selbst dann waren sie nur schwer zu entdecken. Wren gab es bald auf, nach etwas anderem zu suchen, sondern konzentrierte sich ausschließlich auf die gefährlichen Netze. Eine Spinne kann sicher Netze wie diese spinnen, dachte sie bei sich, und stellte sich den Wisteron in Gedanken als solche vor.
Ihre Flucht dauerte erst wenige Minuten, als sie ihn schließlich herannahen hörte. Das Geräusch drang deutlich bis zu ihnen – Gestrüpp und Buschwerk zerbrach, Zweige von Bäumen schnellten zurück, Rinde kratzte, und Wasser platschte und schäumte. Der Wisteron war groß, und er machte keine Anstalten, sein Kommen zu verbergen. Es klang, als walze ein Moloch unerbittlich und unentrinnbar alles nieder. Der In Ju erinnerte an eine gewaltige, grüne Kathedrale, der ihre Stille ausgetrieben worden war. Wren war plötzlich sehr ängstlich.
Sie passierten eine ausgedehnte Lichtung, auf der sich ein See gebildet hatte, der sie zum Richtungswechsel zwang. Nach einem Moment des Zögerns gingen sie unmittelbar an einer niedrigen Bodenwelle entlang, auf der eine dichte Dornenhecke wuchs. Stresa bohrte sich hindurch, ohne die Stacheln zu bemerken. Wren und Garth folgten, wobei sie tapfer die Kratzer und Schnitte ignorierten, die sie sich zuzogen, denn die Geräusche des Wisteron hinter ihnen begannen lauter zu werden. Dann plötzlich verschwanden alle Geräusche.
Stresa blieb sofort stehen und gefror an seinem Platz. Die Fahrenden taten es ihm gleich. Wren lauschte bewegungslos. Garth legte seine Hände auf die Erde. Alles war ruhig. Die Bäume ragten über ihnen auf, ohne daß sich ein Blatt regte, das diesige Halblicht wirkte wie ein Vorhang aus Gaze. Das einzige Geräusch war ein Rascheln des Windes... obwohl es nicht windig war. Wren fror. Die Luft war so ruhig wie der Tod. Sie schaute schnell zu Stresa. Der Stachelkater schaute aufwärts. Der Wisteron bewegte sich zwischen den Bäumen hindurch. Garth stand wieder aufrecht und hatte sein langes Messer gezogen. Wren suchte den Baldachin aus Blättern und Zweigen über sich in dem wilden und nutzlosen Versuch ab, etwas zu erkennen. Das Rascheln war näher und erkennbar, nicht mehr nur das Flüstern des Windes in den Blättern, sondern die Bewegung von etwas Großem.
Stresa begann zu laufen. Er sah aus wie ein seltsam geformter Klumpen stacheliger Erde, der auf ein Wäldchen mit Koaakazien zustrebte, irgendwie lautlos, aber auch wild. Wren und Garth folgten ihm unaufgefordert und fraglos. Wren schwitzte heftig unter ihrer Kleidung, und ihr Körper schmerzte von der Anstrengung, sich ruhig zu verhalten. Sie ging geduckt vorwärts und hatte jetzt Angst, zurückzuschauen, hinaufzuschauen oder irgendwo anders hinzuschauen als vorwärts, wo der Stachelkater vorwärts eilte. Das Rascheln von Blättern summte in ihren Ohren. Laut war das Zurückschnappen von Zweigen zu hören. Vögel schössen durch den Wald wie plötzliche Farbflecke und Bewegungen unter einem Baldachin und waren im Handumdrehen verschwunden. Der Dschungel schimmerte feucht und kalt um sie herum, ein stiller Ort, wo nur sie sich bewegten. Die Koaakazien erhoben sich über ihnen, massive Stämme mit meterlangen, moosigen Weinranken, große, ehrwürdige Giganten, die schon vor sehr langer Zeit Wurzeln geschlagen hatten. Wren schrak unvermittelt zusammen. An ihrer Brust hatten die Elfensteine im Verborgenen zu brennen begonnen.
Nicht schon wieder, dachte sie verzweifelt, ich werde die Magie nicht schon wieder gebrauchen, aber sie wußte im selben Moment, in dem sie das dachte, daß sie es doch tun würde. Sie erreichten den Schutz der Koaakazien, drängten sich hastig weiter hinein, hinunter in einen Saal, der aus Baumstämmen und Schatten gebildet wurde. Wren schaute hinauf und suchte nach Fallen. Es waren keine zu sehen. Sie beobachtete, wie Stresa in eine bestimmte Richtung auf eine Ansammlung von Gestrüpp zueilte und hineindrängte. Garth und sie folgten, wobei sie gebeugt gehen mußten, um einen Weg zwischen den Zweigen zu finden, und trugen ihre Bündel auf dem Rücken, die sie fest umklammerten, um kein Geräusch zu machen.
Zusammengekauert in der Dunkelheit und schwer atmend knieten sie auf dem Dschungelboden und warteten. Die Minuten verstrichen. Die belaubten Zweige ihres Schutzraumes dämpften alle Geräusche von außen, so daß sie das Rascheln nicht mehr hören konnten. Es war eng in ihrem Versteck, und der Geruch von vermodertem Holz stieg von der Erde auf. Wren fühlte sich gefangen. Es wäre besser, draußen im Freien zu sein, wo sie davonlaufen konnten, wo sie etwas sehen konnten. Sie spürte den plötzlichen Drang, sofort aufzuspringen. Dann aber sah sie Garth an, sah die Ruhe auf dem Gesicht des großen Mannes und blieb. Stresa hatte sich zum Eingang zurückgezogen, flach auf die Erde gedrückt, den Kopf keck hervorgestreckt, die kurzen Katzenohren aufgerichtet.
Wren kauerte sich neben das Wesen und spähte hinaus. Die Stacheln des Stachelkaters sträubten sich.
Im gleichen Augenblick sah sie den Wisteron. Er war noch immer in den Bäumen, so weit von der Stelle entfernt, an der sie sich versteckt hatten, daß er kaum mehr war als ein Schatten vor der Wand aus Vog. Dennoch war kein Irrtum möglich. Er kroch durch die Zweige wie ein riesiger Geist... Nein, verbesserte sie sich. Er kroch nicht. Er pirschte sich an. Nicht wie eine Katze, sondern wie etwas weitaus Überzeugteres, weitaus Entschlosseneres. Er stahl auf seinem Weg das Leben aus der Luft, er war ein Schatten, der Geräusche und Bewegungen verschlang. Er hatte vier Beine und einen Schwanz, und er benutzte alle fünf, um die Zweige der Bäume zu ergreifen und sich vorwärts zu hangeln. Er war vielleicht einmal ein Säugetier gewesen, und er sah noch immer so aus. Aber er bewegte sich wie ein Insekt. Er war völlig mißgebildet und verformt, die Teile seines Körpers hingen wie riesige Greifzangen an ihm und erlaubten es ihm offenbar, frei in jede Richtung zu schwingen. Er war glatthaarig und sehnig und noch viel bizarrer als das Wolfswesen, das ihnen aus Grimpen Ward heraus gefolgt war.
Der Wisteron blieb stehen und wandte sich um.
Wren stockte der Atem, und sie hielt ihn mit erschreckender Entschlossenheit an. Der Wisteron hing freischwebend vor dem Grau, ein riesiger, angsteinflößender Schatten. Dann schwang er sich plötzlich davon. Er schwang an ihr vorbei wie das Versprechen ihres eigenen Todes, eine Andeutung nur, die sie neckte und leise Drohungen flüsterte. Jedoch sah er sie nicht und wurde nicht langsamer. An diesem Nachmittag war er auf andere Opfer aus.
Und dann war er fort.
Nach einiger Zeit verließen sie ihr Versteck, um weiterzuziehen. Sie waren aufgewühlt und verschreckt und setzten eigentlich nur deshalb ihren Weg fort, weil es sein mußte, wenn sie den In Ju jemals hinter sich lassen wollten. Dennoch hatten sie dieses Ziel noch nicht erreicht, als die Dunkelheit hereinbrach. Daher verbrachten sie die Nacht im Sumpf. Stresa fand eine große Höhle im Stamm eines toten Banyan, und die Fahrenden krochen auf Drängen des Stachelkaters widerwillig hinein. Sie hätten auf eine derartige Enge gern verzichtet, aber es war besser, als draußen im Freien zu schlafen, wo sich die Wesen des Sumpfes an sie heranschleichen konnten. Auf jeden Fall war es in dem Baumstamm trocken, und die Kälte der Nacht war weniger durchdringend. Die beiden Fahrenden hüllten sich in ihre schweren Umhänge und saßen vor der Öffnung. Sie starrten hinaus in die undurchdringliche Dunkelheit, rochen Fäulnis und Schimmel und Feuchtigkeit und beobachteten, wie die Schatten vorbeihuschten, die ständig gegenwärtig waren.