Als sie das nächste Mal erwachte, war es dunkel. Sie fühlte sich jetzt stärker. Ihre Sicht war ungetrübt und ihr Empfinden für alles, was um sie herum geschah, klar und sicher. Lebhaft richtete sie sich auf einen Ellenbogen auf und stellte fest, daß Garth ihr in die Augen sah. Er saß mit gekreuzten Beinen neben ihr. Sein dunkles, bärtiges Gesicht war zerknittert und überanstrengt von mangelndem Schlaf. Sie sah an ihm vorbei zu Stresa hinüber, der zu einer Kugel zusammengerollt dalag, und schaute dann wieder zu Garth.
Geht es dir besser? signalisierte er.
»Ja«, antwortete sie. »Das Fieber ist vorbei.«
Er nickte. Du hast fast zwei Tage lang geschlafen.
»So lange? Das habe ich nicht gemerkt. Wo sind wir?«
Am Fuße des Blackledge. Er gestikulierte in der Dunkelheit.
Wir haben den In Ju verlassen, nachdem du zusammengebrochen warst, und haben hier unser Lager errichtet. Der Stachelkater erkannte, welche Krankheit dich befallen hatte, und fand eine Wurzel, die sie heilen konnte. Ich glaube, daß du ohne seine Hilfe vielleicht gestorben wärest.
Sie grinste schwach. »Ich habe dir gesagt, daß es eine gute Idee sein könnte, ihn mitzunehmen.«
Schlaf weiter. Es sind noch ein paar Stunden bis zur Dämmerung. Wenn es dir dann gut genug geht, werden wir weiterziehen.
Sie legte sich gehorsam zurück und dachte daran, daß Garth die ganze Zeit, in der sie krank gewesen war, allein Wache gehalten haben mußte und daß Stresa sich sicherlich nicht darum gekümmert hatte, da er wohlig im Schutz seines eigenen Panzers steckte. Ein Gefühl der Dankbarkeit erfüllte sie. Garth war immer für sie da. Sie beschloß, daß ihr riesiger Freund den Schlaf, den er brauchte, bekommen sollte, wenn die Nacht erneut hereinbrach.
Sie schlief gut und wachte erholt auf. Jetzt war sie begierig, ihre Reise wieder aufzunehmen. Sie wechselte die Kleidung, obwohl nichts, was sie bei sich trug, jetzt noch sauber war, wusch sich und frühstückte. Auf Garths Drängen hin nahm sie sich einige Augenblicke Zeit, um ihre Muskeln zu trainieren und um ihre Kräfte zu prüfen für das, was vor ihnen lag. Stresa schaute zu, abwechselnd neugierig und unbeteiligt. Sie unterbrach ihre Übungen einen Moment, um dem Stachelkater für seine Hilfe bei der Bekämpfung des Fiebers zu danken. Er behauptete, nicht zu wissen, wovon sie sprach. Die Wurzel, die er für sie besorgt habe, habe ihr lediglich zu Schlaf verhelfen. Was sie gerettet habe, sei ihre Elfenmagie, knurrte er, breitete seine Stacheln aus und walzte davon, um Nahrung zu suchen. Sie brauchten diesen ganzen Tag und den größten Teil des nächsten, um den Blackledge zu erklimmen, und sie hätten ohne Stresa noch viel länger gebraucht – wenn sie es jemals wirklich geschafft hätten. Der Blackledge war eine turmhohe Mauer aus Felsgestein, die sich um den Südhang des Killeshan zog. Sie lag auf halber Höhe des Hanges und schien sich gebildet zu haben, als ein Teil des Vulkans abgesprengt worden und dann mehrere tausend Fuß tief in den Dschungel gestürzt war. Die Bruchstelle der Klippe, die einst glatt gewesen sein mußte, war über die Jahre abgetragen, ausgehöhlt und uneben geworden und dicht mit Gestrüpp und Weinranken bewachsen. Es gab nur wenige Stellen, an denen man den Blackledge überwinden konnte, und Stresa kannte sie alle. Der Stachelkater wählte einen Abschnitt der Klippe, an dem sich die Felswand geteilt hatte und sich ein Riß aufgetan hatte, der nur knapp tausend Fuß über dem Dschungelboden lag. In dem Riß gab es einen Paß, der hinüber ins Tal verlief. Dort würden sie die Elfen jenseits des Rowen finden, verkündete Stresa.
Entschlossen führte er sie hinauf.
Der Aufstieg war hart. Sie kamen nur langsam voran, und der Weg schien endlos. Es gab keine Pässe oder Pfade. Es gab tatsächlich sehr wenige Stellen, die überhaupt irgendeine Art von Trittfläche boten, wobei auch davon keine mehr als ein kurzes Aufsetzen erlaubte. Das Lavagestein war messerscharf unter ihren Händen und Füßen und konnte ohne Vorwarnung abbröckeln. Die Fahrenden trugen schwere Handschuhe und Umhänge, um ihre Haut zu schützen und vor Spinnenbissen und Skorpionstichen sicher zu sein. Der Vog rollte die Vorderseite des Felsens hinab, als sei er vom Rand herabgegossen worden, dicht und übelriechend durch Schwefel und Ruß. Fast alles, was auf dem Felsen wuchs, war dornig und zäh und mußte beseitigt werden. Jeder Zentimeter des Aufstiegs war ein Kampf, der alle ihre Kräfte forderte. Wren hatte sich ausgeruht gefühlt, als sie den Aufstieg begonnen hatten. Es war noch nicht einmal Mittag, als sie bereits wieder erschöpft war. Selbst Garths unglaubliche Zähigkeit war schnell verbraucht.
Stresa hatte diese Probleme nicht. Der Stachelkater war unermüdlich und watschelte die Vorderseite der Klippe mit langsamem, aber stetigem Schritt hinauf. Seine mächtigen Klauen fanden ausreichenden Halt, bohrten sich in den Fels und zogen den wuchtigen Körper voran. Spinnen und Skorpione schienen Stresa nicht zu stören. Wenn sie nahe genug herankamen, fraß er sie einfach auf. Er führte sie, wobei er die Punkte suchte, die für seine menschlichen Begleiter am leichtesten zu bewältigen sein würden, und hielt oft an, um zu warten, bis sie ihn erreicht hatten. Er machte einen kleinen Umweg, um einen Zweig zu ihnen zu bringen, der mit süßen, roten Beeren beladen war, die sie schnell und dankbar aßen. Als die Nacht hereinbrach und sie noch immer nur die Hälfte des Hanges erklommen hatten, fand er sogar einen Sims, auf dem sie die Nacht verbringen konnten. Er überzeugte sich zunächst davon, daß nichts sie hier bedrohen konnte, und bot dann zu ihrem größten Erstaunen an, die Wache zu übernehmen, während sie schliefen. Garth hatte die vergangenen zwei Nächte damit verbracht, die fiebernde Wren zu bewachen, und war zu erschöpft, jetzt noch zu diskutieren. Das Mädchen schlief die erste Hälfte der Nacht und löste den Stachelkater dann mehrere Stunden vor Tagesanbruch ab. Sie mußte dabei feststellen, daß Stresa ein Gespräch dem Schlaf in jedem Fall vorzog. Er wollte etwas über die Vier Länder wissen. Er wollte von den Lebewesen hören, die darin lebten. Er erzählte Wren auch noch mehr über Morrowindl. Es war ein Bericht über den qualvollen Kampf ums Überleben in einer Welt, in der alles ständig auf der Jagd war oder gejagt wurde, wo es keine sicheren Zufluchtsorte gab und wo das Leben normalerweise kurz und hart war.
»Grrrrrr. Zu Anfang war es nicht so«, grollte er leise. »Bis die Elfen die Dämonen schufen. Erst dann hat sich alles zum Schlechten gewandt. Phhhfft. Einfältige Elfen. Sie haben sich ihr eigenes Gefängnis geschaffen.«
Er klang so verbittert, daß Wren beschloß, der Sache nicht weiter nachzugehen. Sie war sich noch immer nicht sicher, ob der Stachelkater genau wußte, worüber er sprach. Die Elfen waren immer Heiler und Fürsorgende gewesen – niemals Schöpfer von Monstern. Es fiel ihr schwer, zu glauben, daß sie ein Paradies in einen Sumpf verwandelt haben könnten. Sie dachte nach wie vor, daß an dieser Geschichte mehr sein mußte als das, was Stresa wußte. Sie wollte ihr Urteil zurückhalten, bis sie alles erfahren hatte.
Bei Tagesanbruch setzten sie den Aufstieg fort, zogen sich die Felsen hinauf, klammerten sich an die Vorderseite der Klippe und spähten durch den wirbelnden Nebel hinauf. Es regnete mehrere Male, und ihre Kleidung wurde durchweicht. Die Hitze nahm ab, als sie höher kamen, aber die Feuchtigkeit blieb. Wren war noch immer schwach von dem Sumpffieber, und sie brauchte all ihre Kraft und Konzentration, um weiterhin einen Fuß vor den anderen setzen und die Hand für ein weiteres Hochziehen ausstrecken zu können. Garth half ihr, wenn er konnte, aber es war selten genug Platz, daß er das konnte, und meist waren sie gezwungen, den Aufstieg hintereinander durchzuführen. Manchmal sahen sie Höhlen in den Klippen, dunkle Öffnungen, die ihnen schweigend und leer entgegengähnten. Stresa wich ihnen bewußt aus. Als Wren danach fragte, was darin sei, zischte der Stachelkater und erklärte mit ziemlicher Bestimmtheit, daß er das nicht wissen wolle.