Der frühe Nachmittag brachte sie schließlich auf den Grund des Risses und den dahinter liegenden Durchgang. Sie standen von Schmerzen geplagt und erschöpft wieder auf flachem, festem Untergrund und schauten zurück über das Südende der Insel bis zu dem Punkt, an dem sie wie ein ausgerollter, nebliger Teppich aus grünem Dschungel und schwarzen Lavafelsen an die azurblaue Fläche des Meeres grenzte. Der Blackledge erhob sich an allen Seiten über ihnen. Er erstreckte sich zerklüftet und neblig als ungebrochene Mauer in die Ferne, bis er am Horizont verschwand. Seevögel kreisten am Himmel. Sonnenlicht brach kurz durch einen Spalt in den Wolken, blendend in seiner Intensität, und verlieh den stumpfen Farben des Landes unter ihnen Stärke und Glanz. Wren und Garth blinzelten gegen sein Strahlen an und erfreuten sich an der Wärme auf ihren Gesichtern. Dann verblaßte es und verschwand so schnell wieder, wie es gekommen war. Kälte und Feuchtigkeit kehrten zurück, und die Farben der Insel wurden wieder stumpf.
Sie wandten sich zu dem Schatten des Risses um und begannen, auf die Öffnung des engen Durchganges zuzuklettern. Schließlich gelangten sie hinein. Die Felsenklippe erhob sich rund um sie herum, und der Wind blies von den Höhen Killeshans in rauhen, schnellen Stößen herunter wie das Geräusch von etwas Atmendem. Es war kalt in dem Durchgang, und die Fahrenden wickelten sich fest in ihre Umhänge. Regen fiel in plötzlichen Wolkenbrüchen und hörte wieder auf, und der Vog ergoß sich in undurchdringlichen Wellen die Felsen hinab. Die Dämmerung war schon hereingebrochen, als sie das Ende des Risses erreichten. Sie standen am Rande eines Tales, das sich bis zur letzten Erhebung des Killeshan erstreckte. Es war ein Kessel voller Grün, der in der Ferne von einem Waldstreifen begrenzt wurde. Die Bäume reichten bis zu den kahlen Lavafelsen der hohen Hänge dahinter. Das Tal war breit und neblig, und es war unmöglich, zu erkennen, was darin lag. Weit im Osten konnte man das schwache Schimmern eines Wasserlaufes ausmachen, der sich durch den Dunst und zwischen akazienbestandenen Hügeln hindurchschlängelte. Jenseits des Flusses ragten Bergkämme auf, die von schwarzen Strömen narbiger Felsen gesäumt waren. Über der Talfläche lag Stille.
Sie schlugen ihr Lager im Schutze des Durchgangs unter einem Überhang auf, der dem Tal gegenüber lag. Die Nacht brach schnell herein, und da der Himmel so vollständig ihrem Blick entzogen war, verwandelte sich die Welt um sie herum in beängstigendes Schwarz. Die Stille der Dämmerung machte bald einem Wirrwarr rauher Töne Platz – dem unterbrochenen, kaum wahrnehmbaren Rumpeln des Killeshan, dem Zischen von Dampf aus Rissen in der Erde, aus denen die Hitze des Vulkaninneren hervorbrach, dem Grunzen und Grollen jagender Lebewesen, dem plötzlichen Schreien, wenn etwas starb, und wilden Flüstern, wenn etwas anderes floh. Stresa rollte sich zu einer Kugel zusammen, lag mit dem Kopf zur Dunkelheit hin und konnte in dieser Nacht nicht so schnell einschlafen. Wren und Garth saßen nahe bei ihm. Sie fühlten sich ängstlich und unbehaglich und fragten sich, was wohl vor ihnen lag. Sie waren ihrem Ziel jetzt nahe, die Fahrende konnte das spüren. Die Elfen waren nicht mehr weit. Sie würden sie bald finden. Manchmal glaubte Wren, durch die Schwärze und den Dunst das Leuchten von Feuern wie blinzelnde Augen in der Nacht erkennen zu können. Die Feuer waren weit entfernt. Sie glommen wohl jenseits des Tales hoch oben auf den Hängen kaum unterhalb der Baumgrenze. Sie wirkten einsam und verloren, und sie fragte sich, ob sie sich nicht täuschte. Wie weit waren die Elfen bei ihrem Auszug aus den Vier Ländern gekommen? Vielleicht zu weit? So weit, daß sie nicht zurückkommen konnten?
All ihre Fragen blieben unbeantwortet und schließlich schlief sie ein.
Bei Tagesanbruch brachen sie erneut auf. Morrowindl war zu einer lebhaften, umwölkten Welt aus Schatten und Klängen geworden. Das Tal fiel unter ihnen steil ab, und ihr Weg kam ihnen vor, als stiegen sie in eine Grube hinab. Der Pfad war felsig und rutschig von der Feuchtigkeit, und das Grün, das ihnen in dem unbestimmten Licht des vorangegangenen Abends so beherrschend erschienen war, entpuppte sich jetzt als bloße Flecken von Moos und Gras, das inmitten großer Flächen kahlen Felsgesteins kauerte. Rauchfäden, die von dem Gestank des Schwefels umsäumt waren, erhoben sich himmelwärts, um sich mit dem Vog zu vermischen, und stellenweise brannte sich intensive Hitze durch die Sohlen ihrer Stiefel und versengte die Haut ihrer Gesichter. Stresa ging langsam voran. Er wählte seinen Weg sorgfältig und watschelte zwischen den Felsen und ihren Inseln aus Grün hin und her. Mehrere Male blieb er stehen und änderte die Richtung wieder, um einen völlig anderen Weg zu wählen. Wren konnte nicht sagen, was der Stachelkater sah. Für sie war alles unsichtbar. Sie fühlte sich einmal mehr all ihrer Fähigkeiten beraubt, eine Fremde in einer feindlichen, verschlossenen Welt. Sie versuchte, sich zu entspannen. Vor ihr bewegte sich Stresas wuchtiger Körper mit jeder Bewegung rollend vorwärts und seine dolchähnlichen Stacheln hoben und senkten sich im gleichen Rhythmus. Hinter ihr schlich Garth, als sei er auf der Jagd. Sein dunkles Gesicht war angespannt, undurchdringlich, hart. Wie sehr sie sich ähnelten, dachte sie überrascht.
Sie waren von einer kleinen Erhebung in ein Wäldchen aus Gestrüpp herabgestiegen, als das Wesen sie plötzlich angriff. Es schnellte sich mit einem Schrei aus dem Nebel hervor, ein Scheusal mit gesträubtem Fell, mit Klauen und gefletschten Zähnen, das in verzweifelter Raserei um sich schlug. Es hatte Beine und einen Körper und einen Kopf – mehr konnten sie im ersten Augenblick nicht erkennen. Es schoß an Stresa vorbei und griff Wren an, die kaum noch ihre Arme heben konnte, bevor es sie erreicht hatte. Instinktiv rollte sie sich zur Seite, nahm das Gewicht des Wesens mit sich und schleuderte es dann fort. Es schlug und biß, aber ihre schweren Handschuhe und ihr Umhang schützten sie. Sie sah seine gelben, irren Augen, und sie spürte seinen übelriechenden Atem. Nachdem sie es abgeschüttelt hatte, wankte sie auf die Füße und sah aus den Augenwinkeln, wie sich das Wesen zurückwälzte.
Dann war Garth da und sein kurzes Schwert durchschnitt die Luft. Ein Glitzern von Eisen, und der Arm des Wesens war fort. Es fiel hin, schrie und biß in die Erde. Garth trat eilig hinzu, trennte seinen Kopf ab, und es wurde still.
Wren stand da und zitterte. Sie war noch immer unsicher, was das Wesen war. Ein Dämon? Etwas anderes? Sie schaute hinab auf die blutige, formlose Hülle. Es war alles so schnell gegangen.
»Phffft! Horcht!« zischte Stresa scharf. »Es kommen noch mehr! Ssstttffft. Hier entlang! Beeilt euch!«
Er watschelte schnell davon. Wren und Garth folgten eilig und tauchten hinter ihm in die Dämmerung ein.
Sie konnten bereits die Geräusche der Verfolger hören.
8
Die Jagd begann. Sie war erst langsam und gewann an Schnelligkeit, als sie sich hinunter ins Tal zog. Wren, Garth und der Stachelkater waren zunächst allein. Es wurde nach ihnen gesucht, aber man fand sie nicht, und ihre Verfolger waren nicht mehr als vereinzeltes Lärmen, das noch weit entfernt und nur undeutlich hörbar war. Die drei eilten schnell vorwärts. Sie blieben vorsichtig und waren ohne Panik oder Angst. Die Landschaft kam Wren und Garth vor, als träumten sie. Zeitweise war sie öde und leer, wo schwarzes Lavagestein den Bewuchs unter seinem gleißenden, felsigen Teppich begraben hatte, dann wieder üppig, wo sich Gruppen von Akazien und dichtes Gras in kleinen Inseln in die Ödnis vorkämpften, um zurückzugewinnen, was sie eingenommen hatte. Vog hing über allem wie ein weites, lose gewebtes Leichentuch. Er wirbelte umher und verlagerte sich und beschwor die Illusion herauf, daß alles, was er berührte, lebendig sei. Über ihnen, an einzelnen kleinen Stellen durch den Dunst sichtbar, hing der eisengraue, sonnenlose Himmel.
Stresa wählte einen überwucherten, umständlichen Weg, der sie zuerst in eine Richtung führte und dann wieder in eine andere, wobei sein dicht mit Stacheln versehener Körper rollte und schwankte, so daß es ständig schien, als würde er gleich umkippen. Er bevorzugte weder die offene Fläche des Lavagesteins noch den baldachinartigen Schutz des mit Gestrüpp bewachsenen Waldes, sondern wechselte scheinbar planlos von einem zum anderen, und es war unmöglich, festzustellen, ob er seinen Weg intuitiv oder aus Erfahrung wählte. Wren konnte sein schweres Atmen hören. Er drang als ein Grollen aus seiner Kehle und wurde zu einem Zischen, wenn ihm etwas begegnete, das er nicht mochte. Einmal oder zweimal schaute er zu ihnen zurück, als wolle er sich vergewissern, daß sie noch immer da waren. Er sprach nicht, und auch sie blieben stumm.