Seltsam. Bis der alte Mann aufgetaucht war, war sie an ihrer Herkunft nicht interessiert gewesen. Sie hatte sich selbst davon überzeugt, daß dies nicht wichtig sei. Aber etwas an der Art, in der er zu ihr sprach, an den Worten, die er gebrauchte, irgend etwas hatte sie verändert.
Sie streckte die Hand aus, um voller Befangenheit den Lederbeutel an ihrem Hals zu betasten und fühlte die harten Linien der bemalten Steine, der Elfensteine, ihrem einzigen Verbindungsglied zur Vergangenheit. Woher kamen sie? Warum hatte man sie ihr gegeben?
Elfenzüge, Ohmsfordblut und das Herz und das Können einer Fahrenden – das alles gehörte ihr. Aber wie war sie dazu gekommen?
Wer war sie?
Sie hatte es am Hadeshorn nicht herausgefunden. Allanon war gekommen, wie versprochen, dunkel und drohend sogar im Tod. Aber er hatte ihr nichts gesagt. Statt dessen hatte er ihr eine Aufgabe aufgetragen – hatte jedem von ihnen eine Aufgabe aufgetragen, den Kindern von Shannara, wie er sie nannte, Par und Walker und ihr selbst. Aber ihre Aufgabe? Sie schüttelte bei dieser Erinnerung den Kopf. Sie sollte die Elfen suchen, sie finden und zurückbringen in die Welt der Menschen. Die Elfen, die über hundert Jahre lang von niemandem gesehen worden waren, von denen die meisten glaubten, sie hätten überhaupt nie existiert und die für ein Kindermärchen gehalten wurden – die sollte sie finden.
Sie hatte zunächst nicht suchen wollen. Sie war verwirrt gewesen durch das, was sie gehört hatte und was es an Gefühlen in ihr auslöste, nicht gewillt, sich einzulassen oder sich selbst für etwas zu opfern, das sie nicht verstand und das ihr gleichgültig war. Sie hatte die anderen verlassen und war mit Garth als ihrem einzigen Begleiter wieder zurück ins Westland gegangen. Sie hatte vorgehabt, ihr Leben als Fahrende wiederaufzunehmen. Die Schattenwesen waren nicht ihre Sorge. Die Probleme der Rassen waren nicht ihre eigenen. Aber die Ermahnung des Druiden war ihr nicht aus dem Sinn gegangen, und fast ohne es zu merken, hatte sie dennoch mit ihrer Suche begonnen. Es hatte mit Fragen angefangen, die sie hier und dort stellte. Hatte jemand gehört, ob es wirklich Elfen gab? Hatte jemand sie überhaupt je gesehen? Wußte jemand, wo man sie finden konnte? Es waren Fragen, die sie zunächst mühelos stellte, ganz nebenbei, aber im Laufe der Zeit mit wachsender Neugier und schließlich fast mit Dringlichkeit.
Was, wenn Allanon recht hatte? Was, wenn die Elfen noch immer irgendwo da draußen waren? Was, wenn nur sie besaßen, was gegen die Schattenwesenplage half?
Aber die Antworten auf ihre Fragen waren alle gleich gewesen. Niemand wußte etwas von den Elfen. Niemand kümmerte sich darum.
Und dann hatte es angefangen, daß etwas ihnen folgte – jemand oder etwas, ihr Schatten, wie sie es schließlich nannten, ein Wesen, das klug genug war, ihnen trotz all ihrer Vorsichtsmaßnahmen zu folgen, und listig genug, dabei nicht erwischt zu werden. Zweimal hatten sie vorgehabt, es zu fangen, waren aber gescheitert. Mehrere Male hatten sie versucht, denselben Weg zurückzugehen, um hinter das Wesen zu gelangen, und konnten es nicht. Sie hatten niemals sein Gesicht gesehen, niemals auch nur einen flüchtigen Blick darauf erhascht. Sie hatten keine Vorstellung davon, wer oder was es war.
Es war noch immer bei ihnen gewesen, als sie den Wilderun betraten und nach Grimpen Ward hinuntergingen. Dort hatten sie zwei Nächte zuvor die Addershag gefunden. Ein Fahrender hatte ihnen von der alten Frau erzählt, einer Seherin, wie es hieß, die Geheimnisse kannte und etwas von den Elfen wissen könnte. Sie hatten sie im Keller eines Wirtshauses gefunden, angekettet und gefangen von einer Gruppe von Männern, die aus ihrer Gabe Geld schlagen wollten. Wren hatte die Männer dazu gebracht, sie mit der alten Frau sprechen zu lassen, einem Lebewesen, das weitaus gefährlicher und listiger war, als die Männer je vermutet hätten, die sie gefangen hielten.
Die Erinnerung an dieses Treffen war noch immer lebendig und erschreckend.
Der Leib der alten Frau war eine trockene Hülle, ihr Gesicht zu einem Netz aus Linien und Runzeln geschrumpft. Zerzaustes, weißes Haar fiel über die gebrechlichen Schultern. Wren näherte sich und kniete sich neben sie. Die Alte hob den Kopf, und Wren sah ihre milchigen, starren Augen.
»Bist du die Seherin, die man Addershag nennt, altes Mütterchen?« fragte Wren leise.
Die toten Augen blinzelten, und eine dünne Stimme krächzte.
»Wer will das wissen? Sag mir deinen Namen.«
»Mein Name ist Wren Ohmsford.«
Die Alte hob ihre Hände und berührte Wrens Gesicht und erforschte ihre Züge. Die alten Hände strichen über die Haut des Mädchens wie trockene Blätter. Schließlich zog die Alte die Hände wieder zurück.
»Du bist ein Elf.«
»Ich habe Elfenblut.«
»Ein Elf.« Die Stimme der alten Frau war rauh und eindringlich, ein Zischen in der Stille des Bierhauskellers. Das runzlige Gesicht neigte sich zur Seite, als denke sie nach. »Ich bin die Addershag. Was willst du von mir?«
Wren schaukelte ein wenig auf ihren Stiefelabsätzen hin und her. »Ich suche die Westlandelfen. Ich erfuhr vor einer Woche, daß du wissen könntest, wo sie zu finden sind – falls es sie noch gibt.«
Die Addershag kicherte. »Oh, es gibt sie noch. Allerdings. Aber sie zeigen sich nicht jedem – seit vielen Jahren überhaupt niemandem. Ist es so wichtig für dich, sie zu sehen, Elfenmädchen?
Suchst du sie, weil du ein Bedürfnis nach deinesgleichen hast?«
Die milchigen Augen starrten blind auf Wrens Gesicht. »Nein, du nicht. Warum dann?«
»Weil es ein Auftrag ist, der mir erteilt wurde – ein Auftrag, den anzunehmen ich mich bereiterklärt habe«, antwortete Wren vorsichtig.
»Ein Auftrag also!« Die Falten und Runzeln im Gesicht der Alten vertieften sich. »Beug dich näher, Elfenmädchen.«
Wren zögerte und lehnte sich dann zaghaft vor. Die Addershag hob wieder ihre Hände und betastete noch einmal Wrens Gesicht, dann strich sie über ihren Hals und ihren Körper. Als die alte Frau die Bluse auf der Brust des Mädchens berührte, riß sie die Hände zurück, als habe sie sich verbrannt. »Magie!« keuchte sie.
Wren schrak zusammen. Dann packte sie impulsiv die Handgelenke der Alten. »Welche Magie? Was meinst du damit?«
Aber die Addershag schüttelte heftig den Kopf, kniff die Lippen zusammen und ließ den Kopf auf ihre eingefallene Brust sinken. Wren hielt sie noch einen Moment fest und ließ sie dann los.
»Elfenmädchen«, flüsterte die alte Frau. » Wer hat dich auf die Suche nach den Westlandelfen geschickt?«
Wren atmete tief ein, um ihre Angst zu bezwingen. »Der Schatten Allanons«, erwiderte sie dann.
Der Kopf der Alten richtete sich mit einem heftigen Ruck wieder auf. »Allanon!« Sie stieß den Namen wie einen Fluch aus.
»So! Ein Druidenauftrag also, wie? Nun gut. Hör mir also zu.
Geh nach Süden durch den Wilderun, überquere das Irrybisgebirge und folge der Küste der Blauen Spalte. Wenn du zu den Rock-Höhlen gelangt bist, entzünde ein Feuer und lasse es drei Tage und drei Nächte ununterbrochen brennen. Jemand wird kommen und dir helfen. Verstanden?«
»Ja«, antwortete Wren und fragte sich gleichzeitig, ob das wirklich der Fall sein würde.