»Hüte dich, Elfenmädchen«, warnte die Alte und hob ihre magere Hand. »Ich sehe Gefahren, harte Zeiten, Verrat und unvorstellbar Böses auf dich zukommen. Visionen sind in meinem Kopf, Wahrheiten, die mich mit ihrem Wahnsinn heimsuchen. Hör auf mich. Folge deinem eigenen Verstand, Mädchen. Traue niemandem!«
Traue niemandem!
Wren hatte die alte Frau schließlich verlassen, denn sie war gedrängt worden zu gehen, obwohl sie angeboten hatte, zu bleiben und zu helfen. Sie war zu Garth zurückgekehrt, und dann hatten die Männer versucht, sie zu töten, weil das natürlich die ganze Zeit ihre Absicht gewesen war. Ihr Versuch war fehlgeschlagen, und sie hatten für ihre Dummheit bezahlt – vielleicht inzwischen mit ihrem Leben, wenn die Addershag ihrer müde geworden war.
Nachdem Wren und Garth unbehelligt aus Grimpen Ward herausgekommen waren, hatten sie sich nach Süden gewandt, den Anweisungen der alten Seherin folgend, noch immer auf der Suche nach den verschwundenen Elfen. Sie waren zwei Tage ohne Unterbrechung gereist. Sie waren bemüht gewesen, soviel Wegstrecke wie möglich zwischen sich und Grimpen Ward zu legen, und auch erpicht darauf, einen weiteren Versuch zu unternehmen, ihren Schatten abzuschütteln. Wren hatte etwas eher an diesem Tag gedacht, daß es ihnen vielleicht schon gelungen sei. Garth war sich nicht so sicher gewesen. Seine Unruhe verging nicht. Daher war er, als sie für die Nacht haltgemacht hatten, weil sie letztendlich schlafen und ihre Kräfte wieder auffrischen mußten, noch einmal denselben Weg zurückgegangen. Vielleicht würde er etwas entdecken, was die Angelegenheit klären könnte, hatte er gesagt. Vielleicht auch nicht. Aber er wollte es versuchen.
Das war Garth. Nie irgend etwas dem Zufall überlassen. Hinter ihr, in den Wäldern, scharrte eines der Pferde unruhig, doch es beruhigte sich bald wieder. Garth hatte die Tiere hinter den Bäumen versteckt, bevor er gegangen war. Wren wartete einen Moment, um sicher zu sein, daß alles still war, stand dann wieder auf und ging erneut hinüber zu der Weide. Sie verlor sich in den tiefen Schatten, die von deren Baldachin gebildet wurden, und ließ sich erneut entspannt gegen den breiten Stamm sinken. Weit im Westen, wo Wasser und Himmel aufeinander trafen, war das Licht zu einem silbernen Schimmern verblaßt. Magie, hatte die Addershag gesagt. Wie konnte das sein? Wenn es noch Elfen gab und wenn sie sie finden konnte, würden die ihr sagen, was die alte Frau ihr nicht hatte erklären können?
Sie lehnte sich zurück, schloß für einen Moment die Augen und fühlte, wie sie davonglitt, und ließ es geschehen. Als sie wieder aufschreckte, hatte die Nacht die Dämmerung aufgesaugt, die Dunkelheit lag rundum, außer dort, wo Mond und Sterne einen Weg durch das Blattwerk fanden und alles in einen Silberglanz hüllten. Das Lagerfeuer war kalt geworden, und sie zitterte in der Kälte, die die Küstenluft erfüllte. Sie erhob sich, ging hinüber zu ihrem Gepäck, nahm ihren Reiseumhang heraus und schlang ihn wärmend um sich. Dann kehrte sie unter den Baum zurück und ließ sich erneut nieder.
Du bist eingeschlafen, schalt sie sich selbst. Was würde Garth sagen, wenn er das herausfinden würde?
Danach blieb sie wach, bis er zurückkam. Es war fast Mitternacht. Die Welt um sie herum war ruhig geworden bis auf das einschläfernde Rauschen der Meereswogen, die unter ihr auf den Strand aufliefen. Garth tauchte lautlos auf, und doch hatte sie gespürt, daß er kam, bevor sie ihn sah. Aber das bereitete ihr nur geringe Befriedigung. Er trat unter den Bäumen hervor und kam direkt auf die Stelle zu, wo sie sich verborgen hielt, regungslos in der Nacht, ein Teil der alten Weide. Er setzte sich vor sie, groß und dunkel, gesichtslos in den Schatten. Dann hob er seine großen Hände und begann in der Zeichensprache zu reden. Seine Finger bewegten sich rasch.
Ihr Schatten war noch immer irgendwo hinter ihnen und folgte ihnen.
Wren spürte Kälte in ihrem Bauch, und sie schlang ihre Arme fest um sich.
»Hast du es gesehen?« fragte sie und machte entsprechende Zeichen.
Nein.
»Weißt du schon, was es ist?«
Nein.
»Nichts? Überhaupt nichts davon?«
Er schüttelte den Kopf. Es verwirrte sie, daß sie es zugelassen hatte, daß sich ihre Enttäuschung so offensichtlich in ihrer Stimme widerspiegelte. Sie wäre gern so ruhig, wie er es war, würde gern so klar denken können, wie er es ihr beigebracht hatte. Sie wollte eine gute Schülerin sein.
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sie.
»Greift es uns schon an, Garth? Oder wartet es noch ab?«
Es wartet noch ab, signalisierte er. Er zuckte die Achseln, sein schroffes, bärtiges Gesicht war ausdruckslos, beherrscht. Sein Jägerblick. Wren kannte diesen Blick. Er erschien immer dann, wenn Garth sich bedroht fühlte, eine Maske, die verdecken sollte, was in ihm vorging. Es wartet noch ab, wiederholte sie still für sich selbst. Warum? Wofür?
Garth erhob sich, schlenderte zu seinem Gepäck hinüber, zog ein großes Stück Käse und etwas zu trinken heraus und setzte sich. Wren ging zu ihm, um ihm Gesellschaft zu leisten. Er aß und trank, ohne sie anzusehen. Statt dessen schaute er hinaus in die schwarze Weite der Blauen Spalte und schien alles andere vergessen zu haben. Wren betrachtete ihn nachdenklich. Er war ein Riese von einem Mann, stark wie ein Bär, schnell wie eine Katze, erfahren im Jagen und Spurenlesen, erfahren im Überleben, wie sie sonst niemanden kannte. Er war ihr Beschützer und Lehrer, seit sie ein kleines Mädchen war. Nachdem sie ins Westland zurückgebracht worden war, war sie nach ihrem kurzen Aufenthalt bei der Ohmsfordfamilie der Obhut der Fahrenden überantwortet worden und damit Garth. Wie war das alles gekommen? fragte sie sich erneut. Ihr Vater war ein Ohmsford gewesen, ihre Mutter eine Fahrende, doch sie konnte sich an beide nicht erinnern. Warum hatte man sie zu den Fahrenden zurückgebracht, anstatt ihr zu erlauben, bei den Ohmsfords zu bleiben? Wer hatte diese Entscheidung getroffen? Es war niemals richtig erklärt worden. Garth behauptete, es nicht zu wissen. Garth behauptete, er wisse nur, was andere ihm gesagt hätten, und das sei wenig, denn seine einzige Anweisung, der Auftrag, den er übernommen habe, sei, daß er für sie zu sorgen habe. Er hatte dies getan, indem er ihr sein Wissen vermittelt und sie in den Fähigkeiten, die er beherrschte, unterwiesen hatte und sie in allem so gut werden ließ, wie er selbst es war. Er hatte hart daran gearbeitet, dafür zu sorgen, daß sie ihre Lektionen lernte. Das war ihr gelungen. Was auch immer Wren Ohmsford wissen mochte, sie wußte als Wichtigstes und Entscheidendes, wie man am Leben blieb. Garth hatte dies sichergestellt. Aber es war keine Ausbildung, wie sie normalerweise ein Kind eines Fahrenden erhielt – besonders ein Mädchen –, und Wren hatte das von Anfang an gewußt. Daher vermutete sie, daß Garth mehr wußte, als er sagte. Nach einiger Zeit war sie sogar überzeugt davon. Doch Garth wollte nichts preisgeben, wenn sie das Thema auch noch so dringlich zur Sprache brachte. Er schüttelte einfach den Kopf und signalisierte ihr, daß sie besondere Fähigkeiten brauche, daß sie eine Waise und allein sei und daß sie stärker und klüger sein müsse als andere. Er sagte es, aber er weigerte sich, das zu erklären.
Sie bemerkte, daß er seine Mahlzeit beendet hatte und sie beobachtete. Sein verwittertes, bärtiges Gesicht wurde nicht mehr von Schatten verdeckt. Sie konnte die Umrisse seiner Züge klar erkennen und in ihnen lesen. Sie sah, daß sich seine Augenbrauen vor Anteilnahme furchten. Sie sah Freundlichkeit, die sich in seinen Augen spiegelte. Sie spürte Entschlossenheit rundum. Es war seltsam, dachte sie, aber er war immer in der Lage gewesen, ihr mit einem einzigen Blick mehr zu übermitteln, als andere mit einem Wortschwall übermitteln konnten.
»Ich mag es nicht, auf diese Art gejagt zu werden«, sagte sie in der Zeichensprache. »Ich hasse dies Abwarten, um herauszufinden, was geschieht.«
Er nickte, seine dunklen Augen verrieten Angespanntheit.