»Es hat etwas mit den Elfen zu tun«, fuhr sie impulsiv fort.
»Ich weiß nicht, warum ich das Gefühl habe, daß es so ist, aber es ist so. Ich bin mir sicher.«
Dann werden wir bald etwas erfahren, antwortete er.
»Wenn wir zu den Rock-Höhlen kommen«, stimmte sie zu.
»Ja. Denn dann werden wir wissen, ob die Addershag die Wahrheit gesagt hat, ob dort wirklich noch Elfen sind.«
Und was uns folgt, wird es vielleicht auch wissen wollen.
Ihr Lächeln war angespannt. Sie betrachteten einander einen Moment lang stumm und ergründeten, was sie in den Augen des anderen sahen, und dachten darüber nach, was vor ihnen liegen könnte.
Schließlich erhob sich Garth und deutete auf den Wald. Sie nahmen ihr Gespräch auf und gingen zurück zu der Weide. Nachdem sie sich am Fuße ihres Stammes niedergelassen hatten, breiteten sie ihre Schlafmatten aus und wickelten sich in ihre Umhänge. Trotz ihrer Müdigkeit bot Wren an, die erste Wache zu übernehmen, und Garth war einverstanden. Er rollte sich in seinem Umhang zusammen, legte sich dann neben sie und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen.
Wren lauschte seinem ruhiger werdenden Atem und richtete ihre Aufmerksamkeit dann auf die nächtlichen Geräusche hinter ihnen. Es blieb ruhig auf der Klippe, die Vögel und Insekten waren still geworden, der Wind war nur noch ein Flüstern und der Ozean ein besänftigendes, entferntes Murmeln. Was auch immer ihnen dort draußen folgte, schien weit entfernt. Doch das war eine Täuschung, warnte sie sich selbst und wurde noch wachsamer.
Sie berührte den Beutel auf ihrer Brust, der angeblich Elfensteine enthielt. Er war ihr Talisman, dachte sie, ein Zauber, der Böses abwehrte, der vor Gefahren schützte und sie sicher durch alle Herausforderungen bringen würde, die ihnen begegnen würden. Drei bemalte Steine, die Symbole einer Magie, die einst allgegenwärtig, jetzt aber verloren war wie die Elfen, wie ihre Vergangenheit. Sie fragte sich, ob irgend etwas davon wiedergefunden werden könnte.
Oder auch, ob es das sollte.
Sie lehnte sich gegen den Stamm der Weide zurück, starrte hinaus in die Nacht und suchte vergeblich nach einer Antwort.
3
Bei Sonnenaufgang des nächsten Tages nahmen Wren und Garth ihre Reise Richtung Süden und ihre Suche nach den Höhlen der Rocks wieder auf. Es war eine Reise, die viel Vertrauen verlangte, denn während sie Teile der Küstenlinie bereisten, hatten sie beide keine Höhlen gesehen, die groß genug gewesen wären, um das zu sein, wonach sie suchten. Und sie hatten auch niemals einen Rock gesehen. Beide hatten sie Geschichten über die legendären Vögel gehört – Lebewesen mit breiten Flügeln, die einst Menschen getragen hatten. Aber die Geschichten waren eben nur Geschichten, Erzählungen an den Lagerfeuern, die die Zeit vertrieben und Bilder von Dingen heraufbeschworen, die es vielleicht gegeben hatte, aber wahrscheinlich wohl doch nie. Es wurde natürlich erzählt, sie seien gesehen worden, wie das bei jedem Märchenmonster üblich ist. Aber keine dieser Aussagen war zuverlässig. Wie die Elfen hatten sich auch die Rocks offensichtlich den Blicken entzogen. Und dennoch, es mußte keine Rocks geben, damit es auch Elfen gab. Die Hinweise der Addershag könnten sich in jedem Fall als richtig erweisen. Sie mußten nur die Höhlen entdecken, ob mit Rocks oder ohne, das Signalfeuer entfachen und drei Tage warten. Dann würden sie die Wahrheit erfahren. Es war sehr gut möglich, daß die Wahrheit sie enttäuschen würde, natürlich, aber da sie beide diese Möglichkeit sahen und akzeptierten, gab es keinen Grund, nicht weiterzumachen. Ihr einziges Eingeständnis der Mühsal, die ihr Vorhaben für sie bedeutete, war, daß sie entschieden das Gespräch darüber vermieden.
Der Tag zog klar und frisch herauf, der Himmel war wolkenlos und blau, der Sonnenaufgang eine helle Woge über dem östlichen Horizont, von dem sich die Berge als starres, gezacktes Relief abhoben. Die Luft war von den verschiedenen Gerüchen des Meeres und des Waldes erfüllt, und der Gesang von Staren und Spottdrosseln stieg aus den Bäumen empor. Der Sonnenschein vertrieb schnell die Kühle der Nacht und wärmte das unter ihm liegende Land. Hitze breitete sich aus, dicht und drückend, wo sie von den Bergen aufgehalten wurde, und sengend über den Ebenen und Hügeln, wo sie das Gras immer mehr zu einem staubigen Braun verbrannte, wie schon den ganzen Sommer über. An der Küste jedoch blieb es kühl und angenehm, da eine ständige Brise vom Wasser her blies. Wren und Garth hielten ihre Pferde in Bewegung und folgten den engen, gewundenen Pfaden, die an den den östlichen Bergen vorgelagerten Klippen und Stranden entlangführten. Sie hatten es nicht eilig. Sie hatten soviel Zeit, wie sie brauchten, um an ihr Ziel zu gelangen. Es war genug Zeit, um beim Durchqueren dieses unbekannten Landes vorsichtig zu sein – genug Zeit, ein Auge auf ihren Schatten zu haben, falls er ihnen noch immer folgte.
Aber sie waren entschlossen, auch darüber nicht zu sprechen. Diese Entscheidung, nicht darüber zu sprechen, hielt Wren jedoch nicht davon ab, darüber nachzudenken. Sie bemerkte, daß sie während des Rittes darüber nachsann, was dort hinter ihnen sein könnte. Sie ließ ihre Gedanken frei wandern, während sie über die Weite der Blauen Spalte hinwegschaute und ihr Pferd seinen Weg suchen ließ. Ihre schlimmste Ahnung warnte sie, daß das, was ihnen folgte, etwas Ähnliches sein könnte, wie das, was Par und Coll auf ihrer Reise von Culhaven nach Hearthstone gefolgt war, als sie Walker Boh suchten – ein Wesen wie der Gnawl. Aber konnte selbst ein Gnawl ihnen so vollständig aus dem Weg gehen, wie es ihrem Schatten bisher gelungen war? Konnte etwas, das seinem Wesen nach ein Tier war, sie wieder und wieder finden, wo sie doch so sehr bemüht gewesen waren, ihm zu entkommen? Es war eigentlich wahrscheinlicher, daß das, was ihnen folgte, ein Mensch war – mit der Verschlagenheit und Intelligenz und den Fähigkeiten eines Menschen. Ein Sucher vielleicht – gesandt von Felsen-Dall, einem Fährtensucher mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, oder auch ein gedungener Mörder, obwohl der mehr als das sein müßte, um ihnen so erfolgreich auf den Fersen bleiben zu können.
Es war auch denkbar, dachte sie, daß es überhaupt kein Feind war, der da hinter ihnen war, sondern etwas anderes. »Freund« war wohl kaum das richtige Wort, vermutete sie, aber vielleicht jemand, der ein Ziel verfolgte, das dem ihren ähnlich war, jemand, der ein Interesse an den Elfen hatte, jemand, der... Sie verwarf den Gedanken. Schließlich war da jemand, der darauf bestand, im Verborgenen zu bleiben, obwohl er wußte, daß Garth und sie entdeckt hatten, daß sie verfolgt wurden. Jemand, der fortfuhr, ganz bewußt mit ihnen Katz und Maus zu spielen. Ihr schlimmster Verdacht tauchte wieder auf und verdrängte alle anderen Möglichkeiten.
Um die Mittagszeit hatten sie den nördlichen Rand des Irrybis erreicht. Die Berge teilten sich in zwei Richtungen, die hohe Bergkette verlief nach Osten, parallel zu dem im Norden liegenden Rock Spur, und umschloß den Wilderun, die niedrige Bergkette an der Küstenlinie entlang, der sie auf ihrem Weg nach Süden folgten. Der an der Küste gelegene Teil des Irrybis war dicht bewaldet und weniger gewaltig, in Stufen an der Blauen Spalte entlang angelegt, Täler und Grate schützend und Pässe bildend, die die Hügel im Inland mit den Stranden verbanden. Dennoch kamen sie langsamer voran, weil die Wege kaum noch zu erkennen waren und auf langen Strecken oft völlig verschwanden. Manchmal ragten die Berge direkt am Wasser auf und fielen in abschüssigen, unpassierbaren Klippen ab, so daß Wren und Garth vorsichtig zurückreiten mußten, um einen anderen Weg zu suchen. Auch große Holzhaufen blockierten ihren Weg und zwangen sie, um sie herum zu gehen. Sie stellten fest, daß sie sich von den Stranden entfernten und sich den Bergpässen näherten, wo das Land offener und zugänglicher war. Sie arbeiteten sich langsam voran, während sie zusahen, wie die Sonne gen Westen trieb und schließlich im Meer versank. Die Nacht verging ohne Zwischenfälle und bei Tagesanbruch waren sie bereits wieder auf den Beinen und machten sich auf den Weg.