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Die Morgenkälte wich erneut der Mittagshitze. Die Meeresbrise, die den Tag zuvor für Kühlung gesorgt hatte, war auf den Pässen weniger spürbar, und Wren stellte fest, daß sie stark schwitzte. Sie schob ihr zerzaustes Haar zurück, band sich ein Tuch um den Kopf, schüttete sich Wasser ins Gesicht und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Erinnerungen an ihre Kindheit in Shady Vale stiegen in ihr hoch und sie versuchte erneut, sich daran zu erinnern, wie ihre Eltern gewesen waren. Wie schon so oft stellte sie fest, daß sie es nicht konnte. Denn das, woran sie sich erinnerte, war vage und bruchstückhaft – Teile von Unterhaltungen, kleine Augenblicke oder Wörter oder aus dem Zusammenhang gerissene Sätze. Alles, was sie sich in Erinnerung rief, konnte genauso gut etwas mit Pars Eltern zu tun haben wie mit ihren eigenen. Hing es mit ihren Eltern zusammen – oder hing es mit Jaralan und Mirianna Ohmsford zusammen? Hatte sie ihre Eltern jemals richtig gekannt? Waren sie jemals mit ihr in Shady Vale gewesen? Man hatte ihr das erzählt. Man hatte ihr erzählt, sie wären gestorben. Sie konnte sich jedoch nicht daran erinnern. Warum nur? Warum war ihr nichts über sie in Erinnerung geblieben?

Sie schaute zurück zu Garth, und ihre Verwirrung spiegelte sich in ihren Augen. Rasch sah sie wieder woanders hin, denn sie wollte nichts erklären müssen.

Mittags machten sie eine Pause, um zu essen, und ritten dann weiter. Wren fragte Garth nach ihrem Schatten. Folgte er noch immer? Spürte er etwas? Garth zuckte die Achseln und signalisierte, daß er nicht mehr sicher war und sich in diesem Punkt selbst nicht traute. Wren runzelte die Stirn, aber Garth wollte nicht mehr sagen. Sein dunkles Gesicht war undurchdringlich. Der Nachmittag verging, während sie einen Grat überquerten, über den vor einem Jahr ein wütendes Waldfeuer hinweggefegt war. Das hatte das Land so eingeebnet, daß nur noch die geschwärzten Stümpfe des alten Bewuchses und die ersten grünen Sprößlinge des neuen zu sehen waren. Von der obersten Kante des Grates konnte Wren meilenweit über das Land hinter ihnen zurückschauen, ohne daß ihr Blick irgendwo aufgehalten wurde. Es gab nichts, wo sich ihr Schatten hätte verstecken können, keinen Weg, den er ungesehen hätte nehmen können. Wren hielt sorgfältig Ausschau nach ihm und sah nichts.

Und doch wollte das Gefühl, daß er noch immer dort hinter ihnen war, sie nicht verlassen.

Beim Einbruch der Nacht gelangten sie wieder an den Rand einer hohen, engen Klippe, die steil zum Meer hin abfiel. Unterhalb des Pfades, den sie entlangritten, krachten und donnerten die Wasser der Blauen Spalte gegen die Klippen, und Meeresvögel kreisten und schrien über dem weißen Schaum. Sie schlugen ihr Lager in einem Erlenhain auf, in der Nähe eines Flusses, der aus den Gebirgsfelsen herabrann und sie mit Trinkwasser versorgte. Zu Wrens Überraschung entfachte Garth ein Feuer, so daß sie eine warme Mahlzeit zubereiten konnten. Als Wren ihn fragend anschaute, hob der hochgewachsene Fahrende den Kopf und bedeutete ihr, daß ihr Schatten, sofern er ihnen immer noch folgte, auch weiterhin abwarten würde. Sie hatten noch nichts zu befürchten. Wren war nicht so sicher, aber Garth schien zuversichtlich, so daß sie das Thema fallenließ.

In dieser Nacht träumte sie von ihrer Mutter, der Mutter, an die sie sich nicht erinnern konnte und von der sie nicht wußte, ob sie sie jemals gekannt hatte. Im Traum hatte ihre Mutter keinen Namen. Sie war eine kleine, wendige Frau mit demselben aschblonden Haar, wie Wren es hatte, und den haselnußbraunen Augen. Ihr Gesicht war warm und offen und besorgt. Ihre Mutter sagte zu ihr: »Erinnere dich an mich.« Wren konnte sich aber nicht an sie erinnern. Sie hatte nichts, was sie an ihre Mutter erinnert hätte. Und doch wiederholte sie die Worte immer und immer wieder. Erinnere dich an mich. Erinnere dich an mich.

Als Wren aufwachte, blieb ihr das Bild vom Gesicht ihrer Mutter und der Klang ihrer Worte. Garth schien nicht zu bemerken, wie aufgewühlt sie war. Sie zogen sich an, frühstückten, packten ihre Sachen und ritten erneut los – und die Erinnerung an den Traum blieb. Wren begann sich zu fragen, ob der Traum die Wiederbelebung einer Wahrheit sein konnte, die sie über die Jahre irgendwie in sich verschlossen gehalten hatte. Vielleicht war es wirklich ihre Mutter gewesen, von der sie geträumt hatte, das Gesicht ihrer Mutter, an das sie sich nach all den Jahren erinnert hatte. Sie zögerte, es zu glauben, es widerstrebte ihr aber gleichzeitig auch, diese Möglichkeit von sich zu weisen. Sie ritt schweigend weiter und versuchte vergeblich, sich klarzuwerden, welche Möglichkeit sie am Ende mehr verletzen würde.

Der frühe Morgen kam und ging, und die Hitze wurde drückend. Als die Sonne hinter den Berggipfeln aufstieg, erstarb die Brise vom Meer vollständig. Die Luft wurde bleischwer. Wren und Garth führten ihre Pferde, um ihnen eine Verschnaufpause zu verschaffen, und folgten der Klippe, bis sie vollständig verschwand und sie sich auf einem felsigen Pfad wiederfanden, der zu einer riesigen Ansammlung von Felsen hinaufführte. Schweiß perlte und trocknete auf ihrer Haut, während sie wanderten, und ihre Füße wurden müde und wund. Die Meeresvögel verschwanden. Sie hatten ihre Rastplätze aufgesucht und warteten auf die Kühle des Abends, um sich dann wieder hervorzuwagen und erneut zu fischen. Das Land wurde still, wie auch sein verborgenes Leben. Als einziger Laut war das träge Aufschlagen der Wellen der Blauen Spalte auf die felsigen Strande zu hören. Weit draußen am Horizont begannen sich dunkel und bedrohlich Wolken zusammenzuballen. Wren schaute zu Garth. Vor Einbruch der Nacht würde ein Sturm aufkommen.

Der Pfad, dem sie folgten, schlängelte sich weiter aufwärts zu den Gipfeln der Klippen. Die Bäume wurden immer spärlicher, zuerst die Fichten und Tannen und Zedern, dann auch die kleinen, biegsamen Erlen. Der Fels lag nackt und offen unter der Sonne und strahlte die Hitze in dichten, schwerfälligen Wogen wieder ab. Vor Wrens Augen begann die Umgebung zu verschwimmen, und sie machte eine Pause, um ihr Stoffstirnband zu tränken. Garth wandte sich um und wartete ruhig auf sie. Als sie nickte, setzten sie ihren Weg eilig fort. Sie waren bemüht, diese anstrengende Kletterpartie hinter sich zu bringen.

Es war fast Mittag, als sie es schließlich geschafft hatten. Die Sonne stand direkt über ihnen, weißglühend und brennend. Die Wolken, die sich zuvor zusammengeballt hatten, zogen schnell landeinwärts, und es lag eine greifbare Ruhe in der Luft. Als sie am Ende des Pfades angelangt waren, schauten Wren und Garth sich prüfend um. Sie standen am Rande einer Gebirgsebene, die von schweren Gräsern zugewachsen und mit Reihen gekrümmter, windgebeugter, tannenähnlicher Bäume bestanden war. Die Ebene verlief zwischen hohen Gebirgszügen und dem Meer nach Süden, so weit das Auge reichte, eine weite, ungleichmäßige Ansammlung von Niederungen, über der dicht und unbeweglich schwüle Luft hing.

Wren und Garth schauten sich erschöpft an und begannen dann, die Ebene zu durchqueren. Über ihnen schoben sich die sturmbeladenen Wolken langsam vor die Sonne. Schließlich verhüllten sie diese vollständig, und eine schwache Brise kam auf. Die Hitze nahm ab, und Schatten begannen das Land zu überziehen, rastlose Wanderer durch das anhaltende Hitzeflimmern. Wren ließ das Stirnband in ihre Tasche gleiten und wartete darauf, daß ihr Körper abkühlte.

Sie entdeckten das Tal danach: einen tiefen Einschnitt in der Ebene, der versteckt lag, bis man fast darüber stand. Das Tal war fast eine halbe Meile breit, wettergeschützt durch eine Reihe wulstähnlicher Hügel im Osten und eine Erhöhung der Klippen im Westen sowie durch dichte Baumgruppen, die es von Wand zu Wand ausfüllten. Flüsse rannen durch das Tal. Sogar von oberhalb des Randes aus konnte Wren das Gurgeln hören, das an den Felsen entlang in Rinnen hinablief. Sie folgte Garth, der sie führte, in das Tal, fasziniert von der Aussicht, was sie dort vielleicht finden würden. Nach kurzer Zeit kamen sie auf eine Lichtung. Die Lichtung war dicht mit Gräsern und kleinen Bäumen bestanden, zeigte aber keinen alten Bewuchs. Ein schneller Blick zeigte ihnen die Überreste von Steinfundamenten, die unter dem Gestrüpp verborgen lagen. Der alte Bewuchs war entfernt worden, um Platz für Behausungen zu schaffen. Hier hatten einst Menschen gelebt – viele Menschen.