Wren schaute sich nachdenklich um. War es das, was sie suchten? Sie schüttelte den Kopf. Es gab keine Höhlen – zumindest nicht hier, aber...
Sie überlegte nicht weiter, sondern machte Garth eilig ein Zeichen, bestieg ihr Pferd und ritt auf die Klippen im Westen zu. Sie ritten aus dem Tal heraus zu den Felsen, die es vom Meer trennten. Die Felsen waren fast baumlos, aber Gestrüpp und Gräser wuchsen aus jedem Riß und jedem Spalt. Wren steuerte auf den höchsten Punkt zu, der wie ein Sims über die Klippen und das Meer hinausragte. Als sie oben waren, stieg sie ab. Sie ließ ihr Pferd zurück und ging zu Fuß weiter. Der Felsen war hier nackt, eine weite Landsenke, auf der anscheinend nichts wachsen konnte. Sie betrachtete sie einen Moment. Sie erinnerte sie an eine Feuergrube, von den Flammen blankgefegt und gereinigt. Sie vermied es, Garth anzuschauen, sondern trat an den Rand. Der Wind blies jetzt beständig und fuhr ihr in plötzlichen Böen ins Gesicht, als sie hinabschaute. Garth trat leise neben sie. Die Klippen fielen steil ab. Gestrüpp wuchs in dichten Inseln aus den Felsen heraus. Kleine blaue und gelbe Blumen blühten. Sie wirkten seltsam fehl am Platze. Weit unten rollte das Meer auf einer schmalen, leeren Küstenlinie aus. Wellen türmten sich auf, als der Sturm herannahte, und verwandelten sich in weißen Schaum, als sie sich an den Felsen brachen.
Wren betrachtete das Gefälle lange Zeit. Die zunehmende Dunkelheit machte es schwer, alles deutlich zu sehen. Schatten überlagerten die Sicht, und die Bewegung der Wolken trieb das Licht über die Felsen.
Die Fahrende runzelte die Stirn. Irgend etwas stimmte nicht mit dem, worauf sie schaute. Irgend etwas war falsch. Sie konnte nicht sagen, was es war. Sie ließ sich auf die Fersen nieder und wartete auf eine Antwort.
Schließlich wußte sie es. Es gab nirgends Meeresvögel – nicht einen einzigen.
Sie überlegte, was das bedeuten könnte, wandte sich dann Garth zu und signalisierte ihm, er solle warten. Sie erhob sich und ging zu ihrem Pferd zurück, entnahm ihrem Gepäck ein Seil und kehrte zurück. Garth beobachtete sie neugierig. Sie machte schnelle, aufgeregte Handzeichen. Sie wollte, daß er sie über den Rand hinunterließ. Sie wollte sehen, was dort unten war. Schweigend banden sie ein Seilende als Schlinge unter Wrens Arme und das andere Ende um einen Vorsprung nahe am Rand der Klippe. Wren prüfte die Knoten und nickte. Garth stützte sich ab und begann das Mädchen langsam über den Rand hinabzulassen. Wren stieg vorsichtig ab, wobei sie jeden Halt für ihre Füße und Hände nutzte. Garth war für sie bald nicht mehr zu sehen, und sie begann wie vereinbart am Seil zu ziehen, um ihm zu signalisieren, was sie wollte.
Der Wind bedrängte sie. Er wurde nun stärker und zog ärgerlich an ihrem Körper. Sie klammerte sich an die Klippe, um nicht hinabgeweht zu werden. Die Wolken verdeckten den Himmel über ihr vollständig und türmten sich übereinander auf. Ein paar vereinzelte Regentropfen fielen.
Sie biß die Zähne zusammen. Die Aussicht, im Freien festzusitzen, wenn der Sturm losbrach, gefiel ihr nicht. Sie mußte ihre Entdeckungstour beenden und schnell wieder hinaufklettern. Sie duckte sich in ein Gestrüpp. Dornen zerkratzten ihre Arme und Beine, und sie schob sie ärgerlich beiseite. Durch das Gestrüpp arbeitete sie sich abwärts. Als sie über die Schulter sah, konnte sie etwas erkennen, was vorher nicht zu sehen gewesen war, eine Dunkelheit vor der Felswand, eine Einsenkung. Sie kämpfte gegen ihre Erregung an. Dabei signalisierte sie Garth, ihr mehr Seil zu geben, und stieg schnell an den Felsen hinab. Die Dunkelheit wurde dichter. Sie dehnte sich weiter aus, als sie geglaubt hatte, ein großes, schwarzes Loch in der Felswand. Wren spähte durch die Dunkelheit. Sie konnte nicht sehen, was darin lag, aber da waren noch andere, dort, weiter seitlich, auch noch zwei davon, und dort ein weiteres, halb vom Gestrüpp verborgen, vom Fels versteckt... Höhlen!
Sie signalisierte, daß sie mehr Seil brauchte.
Es gab nach, und sie glitt langsam auf die nächstgelegene Öffnung zu, gelangte schnell in deren Schwärze und sah sich blinzelnd um...
Auf einmal hörte sie das Geräusch, ein Rauschen direkt unter ihr und darin. Es erschreckte sie, und einen Moment lang erschauerte sie. Sie spähte erneut hinab. Schatten umhüllten alles, Schichten von Dunkelheit. Sie konnte nichts sehen. Der Wind blies scharf und erstickte andere Geräusche.
Hatte sie sich geirrt?
Sie ließ sich unsicher einige Fuß weiter hinab.
Dort, etwas...
Sie zog wild an dem Seil, um ihren Absturz aufzuhalten, denn sie hing nur Zentimeter über der dunklen Öffnung.
Der Rock brach unter ihr hervor, explodierte aus der Schwärze heraus, als sei er von einem Katapult abgeschossen worden. Er schien den Himmel auszufüllen, die Flügel weit vor den grauen Wassern der Blauen Spalte, über die Schatten und die Wolken ausgebreitet. Er flog so nahe an ihr vorbei, daß sein Körper ihre Füße streifte und sie herumwarf wie ein Stück Stoff. Sie rollte sich instinktiv zu einer Kugel zusammen, schlug an dem Seil, ihrem Lebensfaden jetzt, gegen die rauhe Oberfläche des Felsens und hatte Mühe, einen Aufschrei zu unterdrücken, wobei sie die ganze Zeit über betete, daß der Vogel sie nicht sehen möge. Der Rock erhob sich in die Lüfte, vergaß ihre Gegenwart oder kümmerte sich nicht darum, ein goldfarbener Körper mit einem feuerfarbenen Kopf. Er sah wild und gefährlich aus, sein Gefieder war struppig, die Flügel gezeichnet und mit Narben übersät. Er stieg hoch in den sturmerfüllten Himmel im Westen und verschwand.
Darum gibt es hier keine Meeresvögel, bestätigte sich Wren benommen in ihrem Schreck.
Sie hing längere Zeit wie betäubt an der Wand der Klippe, wartete, bis sie sicher sein konnte, daß der Rock nicht zurückkehren würde, zog dann vorsichtig am Seil und ließ sich von Garth in Sicherheit bringen.
Kurz nachdem sie den Rand der Klippen wieder erreicht hatte, begann es zu regnen. Garth wickelte sie in seinen Umhang und brachte sie hastig zurück zum Tal, wo sie in einem Tannenhain vorläufig Schutz fanden. Dort entfachte er ein Feuer und bereitete eine Suppe zu, um sie zu wärmen. Sie fror noch lange Zeit und zitterte bei der Erinnerung daran, wie hilflos sie dort gehangen hatte, während der Rock unter ihr vorbeigestrichen war, nahe genug, um sie fortzureißen und sie zu töten. Ihr Denken drehte sich um nichts anderes. Sie hatte beabsichtigt, bei ihrem Abstieg die Höhlen der Rocks zu finden. Sie hätte sich aber niemals träumen lassen, daß sie auch die Rocks finden würde.
Nachdem sie sich weit genug erholt hatte, daß sie sich wieder bewegen konnte, nachdem die Suppe die Kälte aus ihrem Inneren vertrieben hatte, begann sie sich mit Garth zu unterhalten.
»Wenn es Rocks gibt, konnte es auch Elfen geben«, sagte sie, und ihre Hände übersetzten ihre Worte. »Was glaubst du?«
Garth verzog das Gesicht. Ich denke, du wärest fast getötet worden.
»Ich weiß«, gab sie zerknirscht zu. »Können wir das jetzt weglassen? Ich fühle mich auch so ziemlich dumm.«
Gut, zeigte er gleichmütig an.
»Wenn die Addershag recht hatte, was die Höhlen der Rocks angeht, denkst du nicht auch, daß sie dann mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit auch mit dem recht hat, was sie über die Elfen sagte?« Wren sann weiter nach. »Ich glaube schon. Sicher wird jemand kommen, wenn wir ein Signalfeuer entzünden. Direkt auf diesem Sims. In dieser Senke. Dort sind schon früher Feuer entfacht worden. Das hast du doch auch gesehen. Vielleicht war dieses Tal einmal die Heimat der Elfen. Vielleicht ist es das noch immer. Morgen werden wir dieses Signalfeuer entfachen und abwarten, was geschieht.«