Sie ignorierte sein Achselzucken und lehnte sich bequem zurück, ihre Decken eng um sich gewickelt, die Augen strahlend vor Entschlossenheit. Der Zwischenfall mit dem Rock begann bereits in die hinteren Winkel ihres Bewußtseins zu sinken. Sie schlief bis weit nach Mitternacht und übernahm die Spätwache, denn Garth hatte sie nicht wecken wollen. Sie war für den Rest der Nacht munter und sinnierte, was kommen mochte. Der Regen hörte auf, und bei Tagesanbruch kam die Sommerhitze zurück, dampfend und dicht. Sie suchten trockenes Holz, brachen Äste ab, die klein genug waren, daß sie sie aufladen konnten, bauten einen Schlitten und benutzten die Pferde, um das Holz an den Rand der Klippe zu ziehen. Sie arbeiteten rastlos in der Hitze, blieben aber dennoch bemüht, sich selbst und ihre Tiere nicht zu überanstrengen. Sie machten oft halt und tranken viel Wasser, um einen Hitzschlag zu vermeiden.
Der Tag blieb klar und schwül, der Regen eine entfernte Erinnerung. Eine gelegentliche Brise blies vom Wasser landeinwärts, konnte ihnen aber kaum Kühlung bringen. Das Meer erstreckte sich vom Land als glatte Fläche wie Glas fort und wirkte von der Höhe der Klippen aus flach und hart wie Eisen.
Sie sahen nichts mehr von den Rocks. Garth meinte, sie seien wohl Nachtvögel, Jäger, die den Schutz der Dunkelheit bevorzugten, bevor sie sich hinauswagten. Ein- oder zweimal glaubte Wren ihren Schrei gehört zu haben, schwach und gedämpft. Sie hätte gern gewußt, wie viele in den Höhlen hausten und ob sie Junge hatten. Aber ihr Zusammenprall mit dem riesigen Vogel war ihr genug, wenn ihre Neugier auch unbefriedigt blieb. Sie errichteten ihr Signalfeuer in der Senke auf dem Felsvorsprung, der über die Blaue Spalte hinausragte. Als der Sonnenuntergang einsetzte, benutzt Garth seinen Feuerstein, um das Anmachholz zu entzünden, und bald brannten auch die größeren Holzstücke. Die Flammen stiegen himmelwärts, ein roter und goldener Glanz vor dem schwächer werdenden Licht, der in der Stille knisterte. Wren sah sich zufrieden um. Von dieser Höhe aus konnte das Feuer in allen Richtungen auf Meilen gesehen werden. Wenn dort draußen jemand Ausschau hielt, würde er es sehen.
Sie aßen schweigend zu Abend, saßen nahe bei dem Signalfeuer, schauten auf die Flammen und waren mit ihren Gedanken ganz woanders. Wren bemerkte, daß sie über ihre Cousins, Par und Coll, nachdachte und über Walker Boh. Sie fragte sich, ob sie wie sie dazu überredet worden waren, Aufträge von Allanon anzunehmen. Finde das Schwert von Shannara, hatte der Schatten Par befohlen. Finde die Druiden und das verlorene Paranor, hatte er Walker befohlen. Und ihr hatte er befohlen, die vermißten Elfen zu finden. Wenn sie es nicht taten oder wenn es einem von ihnen mißlänge, dann würde die Vision einer öden und leeren Welt, die er ihnen gezeigt hatte, wahr werden, und die menschlichen Rassen würden zum Spielzeug der Schattenwesen werden. Ihr mageres Gesicht straffte sich, und sie strich gedankenverloren eine Locke zurück, die sich gelöst hatte. Die Schattenwesen – was waren sie? Cogline hatte von ihnen gesprochen, überlegte sie, ohne wirklich etwas zu enthüllen. Die Geschichte, die er ihnen in jener Nacht am Hadeshorn erzählt hatte, war überraschend ungenau gewesen. Lebewesen formten sich in der Leere, die durch das Vergehen der Magie nach Allanons Tod entstanden war. Lebewesen, die aus verirrter Magie geboren worden waren. Was bedeutete das?
Sie beendete ihre Mahlzeit, erhob sich und trat hinaus an den Rand der Klippe. Die Nacht war klar und der Himmel von Tausenden von Sternen erfüllt, deren Licht auf der Oberfläche des Ozeans schimmerte und einen glitzernden Teppich aus Silber zurückließ. Wren verlor sich eine Weile in dieser Schönheit, wärmte sich in der Abendkühle und vergaß für kurze Zeit ihre dunklen Gedanken. Als sie wieder zu sich selbst fand, wünschte sie, sie wüßte genauer, was vor ihr lag. Ihre einst sehr sichere, planvolle Existenz war erstaunlich phantastisch geworden. Sie ging zurück zum Feuer und zu Garth. Der große Mann breitete die Schlafdecken aus, die sie vom Tal herauf gebracht hatten. Sie würden beim Feuer schlafen und es unterhalten, bis die drei Tage verstrichen waren oder bis jemand kam. Die Pferde waren hinter ihnen am Ende des Tals zwischen den Bäumen angepflockt. Solange es nicht regnete, würden sie lieber im Freien schlafen.
Garth bot an, die erste Wache zu übernehmen, und Wren war einverstanden. Sie wickelte sich am Rande der Feuerwärme in ihre Decken und legte sich hin. Sie beobachtete, wie die Flammen vor der Dunkelheit tanzten, verlor sich in ihre hypnotisierenden Bewegungen und ließ sich treiben. Sie dachte erneut an ihre Mutter, an deren Gesicht und ihre Stimme im Traum und fragte sich, ob irgend etwas davon real war.
Erinnere dich an mich.
Warum konnte sie es nicht?
Sie grübelte noch immer darüber nach, als sie schließlich einschlief.
Sie erwachte von Garths Hand auf ihrer Schulter. Er hatte sie über die Jahre Hunderte von Malen geweckt, und sie hatte gelernt, allein von seiner Berührung her sagen zu können, was er empfand. Seine jetzige Berührung sagte ihr, daß er besorgt war. Sie rollte sich sofort auf die Füße, und der Schlaf war vergessen. Es war noch früh, soviel konnte sie nach einem schnellen Blick auf den nächtlichen Himmel sagen. Das Feuer brannte noch immer neben ihnen, sein Schein war unvermindert hell. Garth sah vom Feuer fort in die Nacht, zum Tal zurück, dem Geräusch entgegen, das sich näherte. Wren konnte es kommen hören – ein Kratzen, ein Klicken, das Geräusch von Klauen auf dem Fels. Was auch immer dort draußen war, es versuchte nicht, sein Kommen zu verbergen.
Garth wandte sich zu ihr um und signalisierte, daß bis vor wenigen Augenblicken alles völlig ruhig gewesen war. Ihr Besucher mußte zunächst auf Katzenpfoten herangeschlichen sein und dann seine Meinung geändert haben. Wren stellte nicht in Frage, was ihr gesagt wurde. Garth hörte mit seiner Nase und seinen Händen und vor allem mit seinen Instinkten. Obwohl er taub war, hörte er besser als sie. Ein Rock?, überlegte sie kurz und erinnerte sich seiner klauenähnlichen Füße. Garth schüttelte den Kopf. Dann war es vielleicht, was auch immer gemäß dem Versprechen der Addershag kommen sollte? Garth antwortete nicht. Er brauchte es nicht. Was sich näherte, war etwas anderes, etwas Gefährliches...
Ihre Augen trafen sich, und plötzlich wußte sie es. Es war ihr Schatten, der schließlich kam, um sich ihnen zu zeigen.
Das Kratzen wurde lauter, anhaltender, als würde sich das, was sich da näherte, vorwärts ziehen. Wren und Garth traten einige Schritte vom Feuer zurück und versuchten ein wenig von dem Licht zwischen sich und ihren Besucher und ein wenig Dunkelheit hinter sich zu bringen.
Wren tastete nach dem langen Messer an ihrer Taille. Keine allzu gute Waffe. Garth ergriff seinen gehärteten, viereckigen Knüppel. Sie wünschte, sie hätte daran gedacht, den ihren mitzunehmen, aber sie hatte ihn bei den Pferden gelassen. Und dann schob sich ein mißgestaltetes Gesicht ins Licht, das aus der Dunkelheit herankroch, als befreie es sich aus etwas. Ein muskulöser Körper folgte. Wren spürte Kälte, die sich in ihrer Magengrube ausbreitete. Was vor ihr stand, war nicht wirklich. Es sah aus wie ein riesiger Wolf mit gesträubten, grauen Haaren, einer dunklen Schnauze und Augen, die im Licht des Feuers glitzerten. Aber es war auch auf groteske Art menschlich. Es hatte die Arme eines Menschen, mit Händen und Fingern, obwohl auch dort überall Haare wuchsen und die Finger in Klauen endeten und mißgebildet und dick voller Schwielen waren. Der Kopf hatte etwas von einem Menschen und war auch so geformt – als habe ihn jemand mit einer Wolfsmaske zusammengefügt und wie Ton bearbeitet, um ihn passend zu machen.
Das Lebewesen hatte sich zum Feuer hin bewegt und dann wieder davon weg. Seine harten Augen fixierten sie. Das also war ihr Schatten. Wren atmete tief ein. Das also war das Lebewesen, das sie durch das ganze Westland so unermüdlich verfolgt hatte, das Lebewesen, das ihnen wochenlang gefolgt war. Es hatte sich die ganze Zeit verborgen gehalten. Warum zeigte es sich jetzt?