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»Ich finde, du solltest eine Weile schlafen, Vater«, schlug Andor nach einem Augenblick des Schweigens vor. »Du bedarfst der Ruhe, um für das gewappnet zu sein, was vor uns liegt.«

Der König erhob sich aus seinem Sessel und löschte die Kerzen auf dem Tisch.

»Gut, Andor«, erwiderte er und raffte sich zu einem mühsamen Lächeln auf. »Schick mir Gael herein. Aber auch du hast einen langen Tag gehabt. Auch du solltest dich niederlegen und versuchen zu schlafen.«

Andor kehrte in sein Häuschen zurück. Und er verfiel tatsächlich in einen tiefen Schlaf, so sehr ihn das am folgenden Morgen auch verwunderte. Während seine Gedanken sich wie Kreise drehten, überwältigte ihn die körperliche Erschöpfung. Einmal riß ihn mitten in der Nacht ein Alptraum von unbeschreiblicher Entsetzlichkeit aus seinem Schlummer, und er erwachte schweißgebadet. Doch schon Sekunden darauf glitt er wieder in tiefen Schlummer, der Traum war vergessen. Und danach schlief er ungestört.

Die Dämmerung des Tages zog schon herauf, als er wieder erwachte. Eilig sprang er von seinem Lager, um sich anzukleiden. Ein Gefühl neu belebter Entschlossenheit verlieh ihm Kraft, Stärke und Zuversicht. Irgendwo gab es einen Weg, der aus dieser schrecklichen Lage herausführte, eine Möglichkeit, Sichermal zu finden. Vielleicht barg der sterbende Ellcrys den Schlüssel. Vielleicht besaßen ihn die Erwählten. Auf jeden Fall mußte es ihn geben.

Während er den gekiesten Weg hinunterschritt, nahm er wahr, wie das Licht des frühen Morgens durch den dichten Vorhang der umliegenden Wälder sickerte. Zuerst wollte er zu den Erwählten gehen — sie mußten in den Gärten des Lebens zu finden sein, denn ihr Tag hatte ja schon begonnen. Vielleicht würde etwas Neues sich auftun, wenn er noch einmal mit ihnen sprach. Zweifellos hatten sie alle über ihr Gespräch mit dem Ellcrys nachgegrübelt, hatten es hin und her bedacht, und vielleicht war einem von ihnen noch etwas eingefallen. Oder vielleicht hatte der Ellcrys heute morgen noch einmal zu ihnen gesprochen.

Er machte einen Umweg zum Herrenhaus, wo Gael schon auf seinem Posten war. Doch der junge Elf hob einen Finger an die Lippen, um stumm zu bedeuten, daß der König noch schlief und nicht gestört werden sollte. Andor nickte und entfernte sich wieder. Er gönnte seinem Vater jeden Augenblick der Ruhe.

Tauperlen glitzerten noch auf den Rasenflächen, zwischen denen der Weg sich zum Tor hindurchschlängelte. Andor blickte sich erwartungsvoll um und war verwundert, Went nicht bei der Arbeit zu sehen. Noch mehr verwunderte es ihn, einige der Gartengeräte des alten Mannes achtlos hingeworfen am Rande eines der Rosenbeete hegen zu sehen. Feuchte Erde haftete noch an ihnen. Es war ganz und gar nicht Wents Art, eine angefangene Arbeit unbeendet liegen zu lassen. Andor warf einen letzten Blick auf die Blumenbeete und eilte weiter.

Minuten später schritt er an der von Efeu überwucherten Mauer der Gärten des Lebens entlang über den ausgetretenen Pfad, der zum Eingangstor führte. Von der Höhe des Carolan — der gewaltigen Felswand, die am Ostufer des Singenden Flusses jäh emporsprang und Arborlon hoch über die umliegenden Gebiete erhob — konnte er die Weiten von Westland überblicken, die sich zu seinen Füßen dehnten: im Osten und Norden die Türme und von Bäumen beschatteten Pfade der Elfenstadt, umgürtet vom dichten Grün des Waldlandes; im Süden die fernen, dunstgrauen Zacken des Steinkamms und des Pykon-Gebirges, durchwoben vom silberblauen Band des Mermidon-Flusses, der auf seinem langen Weg ins östliche Callahorn die uralten Felsen durchschnitt; im Westen, am Fuße des Carolan und jenseits der rasch sprudelnden Wasser des Singenden Flusses, das Tal des Sarandanon, die Kornkammer des Elfenreiches. Dieses gelobte Land, dachte Andor mit Stolz, war die Heimat der Elfen. Er mußte gemeinsam mit den Erwählten und seinem Vater einen Weg finden, es zu retten.

Wenig später stand er vor dem Ellcrys. Von den Erwählten war nirgends eine Spur zu entdecken. Der Baum stand verlassen.

Ungläubig sah Andor sich um. Undenkbar, daß die Erwählten ihre Pflicht versäumt hatten, auch wenn der gewohnte Ablauf ihres Tages durch die Offenbarung des Ellcrys arg durcheinandergeraten war. Im Laufe von Hunderten von Jahren hatten es die Erwählten niemals unterlassen, dem Baum beim ersten Lichtstrahl des neuen Tages den Morgengruß zu entbieten.

In großer Eile lief Andor aus den Gärten des Lebens hinaus und hastete zu dem von einer Mauer umgebenen Haus der Erwählten. Immergrüne Hecken und Büsche schlossen das Haus ein, Blumenbeete säumten gepflasterte Fußpfade, und hinten waren in langen Reihen Gemüsebeete angelegt, in deren dunkler Erde frisches Grün sproßte. Eine niedrige Mauer aus verwittertem Stein umfriedete den Hof, in den von zwei Seiten weiße Holztürchen hineinführten.

Das Haus selbst lag in stummer Ruhe.

Andor verlangsamte den Schritt. Die Erwählten mußten doch längst wach sein! Doch nichts rührte sich. Eisige Kälte kroch dem Elfenprinzen ins Herz. Er ging weiter, und seine Augen spähten in die Schatten jenseits der geöffneten Haustür. Schließlich blieb er auf der Schwelle stehen.

»Lauren?« rief er leise den Namen des jungen Elfen.

Er bekam keine Antwort. Nun trat er durch die Tür ins Innere des Hauses, aus dem die Schatten der Nacht noch nicht gewichen waren. Am Rande seines Blickfelds nahm er huschende Bewegungen wahr, welche die Zweige der umgebenden Nadelbüsche erzittern ließen. Plötzliche Furcht erfaßte ihn. Was tat sich dort hinten im Dunkel?

Zu spät erinnerte er sich der Waffen, die er in seinem Häuschen zurückgelassen hatte. Eine Weile stand er reglos da und wartete. Doch kein Laut war zu hören, der die Anwesenheit eines anderen lebenden Wesens verraten hätte. Entschlossen ging er weiter.

»Lauren…?«

Inzwischen hatten sich seine Augen auf die Düsternis des Hauses eingestellt, und was er sah, ließ den Namen des jungen Elf in seiner Kehle ersticken — Leichen, die im Wohnraum lagen wie der Tod sie ereilt hatte, zerfetzt, erschlagen, niedergemacht. Lauren, Jase — alle Erwählten waren tot, wie von tollwütigen Raubtieren gerissen. Grenzenlose Verzweiflung übermannte Andor. Es lebte kein Erwählter mehr, um das Samenkorn des Ellcrys zum Blutfeuer zu tragen, wenn man den Weg zum Sichermal wirklich finden sollte. Es würde keine Wiedergeburt des Baumes geben, keine Rettung für die Elfen. Der Anblick der niedergemetzelten Toten erfüllte ihn mit Grauen und Übelkeit, und dennoch war er unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Wie angewurzelt stand er regungslos da, während Entsetzen und Ekel ihn durchschüttelten, und nur ein einziges schreckliches Wort unaufhörlich in seinem Geist widerhallte: Dämonen!

Andor wankte ins Freie, stützte sich gegen die Mauer des Hauses, um das Zittern seiner Glieder zu beruhigen. Als er sich schließlich wieder einigermaßen gefaßt hatte, eilte er auf dem schnellsten Weg zur Schwarzen Wache, um Alarm zu schlagen, dann weiter in die Stadt. Sein Vater mußte in Kenntnis gesetzt werden, und es war das beste, daß er die schreckliche Nachricht von seinem Sohn erfuhr.

Was den Erwählten zugestoßen war, war nur allzu offenkundig. Mit dem allmählichen Verfall des Ellcrys hatte die Bannmauer der Verfemung begonnen abzubröckeln. Den Kraftvollsten unter den Dämonen war der Ausbruch gelungen. Nur Dämonen konnten die Erwählten niedergemetzelt haben. Mit einem einzigen Schlag hatten sie bewirkt, daß sie nie wieder eingekerkert werden würden. Sie hatten all jene vernichtet, die die Wiedergeburt des Ellcrys und die Wiedererrichtung der Bannmauer erreichen konnten, die sie gefangengehalten hatte.

In wilder Hast stürzte er durch das Tor zum Park, in dem das Herrenhaus lag, hastete den Kiesweg hinunter, der am Garten vorbeiführte. Went war jetzt an der Arbeit, hob flüchtig das von Wind und Wetter gegerbte Gesicht, als der Prinz an ihm vorübereilte. Andor sah ihn kaum, grüßte ihn nicht einmal.

Mit einem Lächeln der Befriedigung senkte sich der Kopf, der Wandler machte sich wieder an die Arbeit.