»Würdest du mir die Sachen bringen?«
Ihre Augen verdunkelten sich vor Zorn. Dann stand sie auf, trat zu einem Schrank, nahm ein paar Kleider heraus und brachte sie ihm.
»Die hier kannst du haben.« Sie warf sie ihm in den Schoß. Sie wollte an ihm vorübergehen, doch da beugte sie sich plötzlich zu ihm hinunter und küßte ihn schnell auf den Mund. »So, und jetzt wasch dich und kleide dich an.« Damit huschte sie davon.
Sie öffnete eine Tür am Ende des Wagens und verschwand in der Nacht. Wil hörte, wie sie von außen den Riegel vorschob. Unwillkürlich mußte er lachen. Ganz gleich, was sie für Absichten haben mochte, entkommen lassen würde sie ihn nicht.
Rasch streifte er seine verschmutzten Kleider ab, wusch sich und legte die Sachen an, die Eretria ihm gebracht hatte. Sie paßten ihm gut, aber er kam sich recht exotisch vor in dieser Pracht.
Er war gerade mit dem Ankleiden fertig, als die Tür wieder geöffnet wurde, und Eretria mit Amberle erschien. Das Elfenmädchen trug eine weite Seidenhose und darüber einen Kittel, der um die Taille von einer Schärpe zusammengehalten wurde. Um den Kopf lag ein Stirnband, das ihr langes Haar bändigte. Ihr Gesicht war frisch gewaschen und zeigte einen etwas überraschten Ausdruck. Sie warf einen Blick auf Wil, und sogleich trat ängstliche Besorgnis in ihre Augen.
»Geht es dir gut?« fragte sie hastig.
»Ich habe mich um ihn gekümmert.« Eretria fegte die Frage einfach zur Seite. Sie wies auf das Bett, das Wils gegenüber stand. »Du kannst hier schlafen. Und versucht ja nicht, euch heute nacht aus dem Wagen zu schleichen.«
Sie sah Wil mit einem wissenden Lächeln an, ehe sie sich abwandte und zur Tür zurückging. Dort drehte sie sich noch einmal um.
»Gute Nacht, Bruder Wil. Gute Nacht, Schwester Amberle. Schlaft gut.«
Lachend schlüpfte sie zur Tür hinaus. Der Riegel schloß sich knirschend.
Der Talbewohner und das Elfenmädchen schliefen ruhig und fest in dieser Nacht im Wagen der Fahrensleute. Als sie erwachten, graute der Morgen, und das Licht des neuen Tages stahl sich durch die Ritzen der Fensterläden und warf fahle Schatten im Inneren des Wagens. Wil blieb eine Weile liegen, während er seine Gedanken sammelte und wartete, daß die letzten Schleier des Schlafes sich lüfteten. Er griff unter seinen Kittel nach dem kleinen Lederbeutel mit den Elfensteinen. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie noch da waren, steckte er den Beutel wieder ein. Vorsicht kann nie schaden, dachte er.
Er war schon mit einem Bein aus dem Bett, als Amberle ihn bat, sich wieder hinzulegen, und aus ihrem Bett herüberkam. Aufmerksam untersuchte sie die Verletzung an seinem Kopf und brachte den Verband wieder in Ordnung. Als sie fertig war, setzte Wil sich auf und überraschte sie mit einem flüchtigen Kuß auf die Wange. Sie errötete leicht, und ihr kindliches Gesicht strahlte.
Wenig später knarrte der Riegel an der Tür, und Eretria trat ein, in den Händen eine Platte mit Brot, Honig, Milch und Obst. Hauchzarte weiße Gewänder umhüllten das dunkle Mädchen wie eine Rauchwolke. Mit ihrem strahlenden Lächeln sah sie Wil an.
»Gut erholt, Wil Ohmsford?« Sie stellte ihm die Platte auf die Knie und zwinkerte. »Cephelo will jetzt mit dir sprechen.«
Sie ging wieder, ohne das Wort an Amberle gerichtet zu haben. Wil sah das Elfenmädchen an und zuckte hilflos die Schultern. Amberle lächelte gezwungen.
Wenige Minuten später kam Cephelo. Er trat ohne anzuklopfen ein, hochgewachsen und mager, in einen waldgrünen Umhang gehüllt. Er sah aus wie damals, als sie ihn zum erstenmal am Ufer des Mermidon gesehen hatten. Der breitkrempige Hut saß in frecher Verwegenheit auf seinem Kopf. Er zog ihn mit schwungvoller Geste beim Eintreten und lächelte breit.
»Ah, die Elfenkinder, der Heiler und seine Schwester. So trifft man sich wieder.« Er verneigte sich. »Sucht Ihr noch immer Euer Pferd?«
Wil lächelte. »Diesmal nicht.«
Mißtrauisch musterte sie der Fahrensmann.
»Nein? Dann habt Ihr Euch wohl verirrt? Arborlon liegt nördlich, wenn ich mich recht erinnere.«
»Wir waren schon in Arborlon und sind dann weitergereist«, erwiderte Wil und stellte die Frühstücksplatte beiseite.
»Und da hat Euch Euer Weg nach Grimpen Ward geführt.«
»Genau wie Euch.«
»In der Tat.« Der hochgewachsene Mann setzte sich den beiden gegenüber. »In meinem Fall ist es so, daß die Geschäfte mich an viele Orte führen, die ich sonst lieber nicht aufsuchen würde. Aber wie steht es mit Euch, Heiler? Was führt denn Euch nach Grimpen Ward? Doch sicher nicht der Wunsch, Eure Kunst an dem Lumpengesindel auszuprobieren, das dieses schäbige Dorf bevölkert.«
Wil zögerte mit der Antwort. Er würde sehr vorsichtig sein müssen mit dem, was er Cephelo sagte. Denn dieser, so gut kannte er ihn inzwischen, war rücksichtslos, wenn er etwas entdeckte, was sich zu seinem eigenen Vorteil ausschlachten ließ.
»Auch wir haben Geschäfte«, versetzte er gleichmütig.
Der Fahrensmann schürzte die Lippen.
»Eine glückliche Hand scheint Ihr bei Euren Geschäften nicht zu haben, Heiler. Wäre ich nicht gewesen, so lägt Ihr jetzt ‘ mit durchschnittener Kehle auf der Straße.«
Wil hätte am liebsten laut herausgelacht. Der alte Fuchs! Daß Eretria bei seiner und Amberles Rettung die treibende Kraft gewesen war, würde er niemals zugeben.
»Wir scheinen wieder einmal in Eurer Schuld zu stehen«, bemerkte er.
Cephelo zuckte die Schultern, »Im Tirfing war ich vorschnell mit meinem Urteil über Euch; ich ließ zu, daß die Sorge um meine Leute die Oberhand über den gesunden Menschenverstand gewann. Ich machte Euch das zum Vorwurf, was geschah; dabei hätte ich Euch für Eure Hilfe danken müssen. Das hat mich seither bedrückt. Daß ich Euch helfen konnte, entlastet mein Gewissen ein wenig.«
»Es freut mich zu hören, daß Ihr so empfindet.« Wil glaubte nicht ein einziges Wort. »Meine Schwester und ich haben sehr schwere Zeiten durchgemacht.«
»Schwere Zeiten?« Cephelos dunkles Gesicht drückte plötzlich Teilnahme aus. »Vielleicht kann ich irgend etwas tun, um Euch zu helfen — um Euch zu Diensten zu sein. Wenn Ihr mir erklären würdet, was Euch in dieses unerfreulichste Gebiet des ganzen Landes führt…«
Jetzt kommt’s, dachte Wil. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Amberle warnend den Kopf schüttelte.
»Ich wünschte, es stünde in Eurer Macht, uns zu helfen.« Wil bemühte sich nach Kräften, den Eindruck von Aufrichtigkeit zu erwecken. »Aber leider ist dem nicht so. Das, was ich am dringendsten brauche, ist ein Führer, der die Geschichte dieses Tals kennt, der mit seiner Landschaft und mit den Örtlichkeiten vertraut ist.«
Cephelo klatschte leicht in die Hände.
»Nun, damit kann ich Euch vielleicht zu Diensten sein. Ich habe den Wildewald viele Male durchreist.« Er legte seinen Zeigefinger an den Kopf. »Ich weiß einiges über seine Geheimnisse.«
Ja, vielleicht, dachte Wil. Vielleicht aber auch nicht. Er will doch nur unser Vorhaben herausbekommen.
»Ich meine, wir sollten Eure Gastfreundschaft nicht noch weiter in Anspruch nehmen, indem wir Euch in unsere Angelegenheiten hineinziehen«, sagte er achselzuckend. »Meine Schwester und ich kommen schon zurecht.«
Das Gesicht des Fahrensmannes war ausdruckslos.
»Warum verratet Ihr mir nicht, was genau Euch hierher führt? Dann kann ich selbst beurteilen, ob der Anspruch wirklich so hoch ist.«
Amberles Hand auf Wils Arm verkrampfte sich, doch Wil ignorierte es. Er hielt den Blick unverwandt auf Cephelo gerichtet. Irgend etwas, das war ihm klar, mußte er dem Fahrensmann erzählen.
»Krankheit hat das Haus Elessedil heimgesucht, das Haus der Herrscher der Elfen.« Er senkte die Stimme. »Die Enkelin des Königs liegt schwerkrank darnieder. Sie braucht eine ganz bestimmte Medizin, nämlich den Sud einer Wurzel, die nur hier im Wildewald zu finden ist. Ich allein weiß das — ich und meine Schwester. Um diese Wurzel zu suchen, sind wir hierhergekommen, denn wenn wir sie finden und dem Herrscher der Elfen bringen, erwartet uns eine hohe Belohnung.«