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Die Abenddämmerung war schon hereingebrochen, als Andor Elessedil die Tür des Hauses hinter sich schloß, in dem die Erwählten gelebt hatten. Mit fester Hand sperrte er zum letzten Mal ab. Schweigen hüllte ihn ein, als er innehielt, um in die dichter werdende Dunkelheit zu blicken. Das Haus stand jetzt verlassen; die Leichen der sechs ermordeten jungen Männer waren fortgebracht worden, und Andor hatte dafür gesorgt, daß die persönliche Habe der Toten den Angehörigen zurückgegeben worden war. Still stand er in der Dunkelheit, mit seinen Gedanken allein. Doch die Gedanken waren nicht von der Art, daß er gern bei ihnen verweilt hätte. Er hatte den Abtransport der schrecklich verstümmelten Leichen überwacht und anschließend die Verbringung der Geschichtsbücher des Ordens in die Gewölbe unter dem Herrenhaus der Elessedils geleitet. Auf Ersuchen seines Vaters hatte er die Aufzeichnungen Seite um Seite durchgesehen und nach jenem erlösenden Wort der Offenbarung geforscht, das sie vielleicht übersehen hatten. Doch er hatte nichts gefunden. Er schüttelte den Kopf. Es spielte ja auch keine Rolle mehr, dachte er hoffnungslos. Was konnte ihnen jetzt noch helfen, wenn sie wirklich entdeckten, wo Sichermal zu finden war? Was half es ihnen, das Blutfeuer zu finden, wenn es keinen Erwählten mehr gab, der das Samenkorn des Ellcrys dort hintragen konnte? Dennoch war er froh gewesen, mit etwas beschäftigt zu sein, was ihn von der Erinnerung an den grauenvollen Anblick im Haus der Erwählten ablenkte.

Er ließ das Haus hinter sich, durchquerte den Hof und schlug den Weg ein, der zu den Gärten des Lebens führte. Überall auf dem breiten Rücken des Carolan loderten rotgoldene Fackeln, die dichter werdende Dunkelheit zu durchdringen. Und überall warteten Soldaten; Schwarze Wachen riegelten die Gärten des Lebens ab, und die Leibgarde des Königs patrouillierte in den Straßen und Gassen der Stadt. Die Elfen lebten in Angst, eingedenk der entsetzlichen Ereignisse. Als sich die Nachricht vom Massaker im Haus der Erwählten wie ein Lauffeuer ausgebreitet hatte, hatte Eventine rasch die erforderlichen Maßnahmen ergriffen, um seinem Volk die beruhigende Gewißheit zu geben, daß es vor einem ähnlichen Schicksal geschützt sei; in Wahrheit allerdings glaubte er nicht daran, daß den Bürgern unmittelbare Gefahr drohte. Das Ungeheuer, das die Erwählten getötet hatte, richtete gegen niemanden sonst seinen Haß. Dennoch konnte es nicht schaden, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, die nicht nur die Stadt schützten, sondern auch die Panik eindämmen würden, die, das spürte der König, unter seinem Volk auszubrechen drohte.

Das unheilvolle Unglück war bereits eingetreten. Der Baum war siech und würde bald sterben, und eine Wiedergeburt würde es nun nicht geben. Mit dem Tode des Ellcrys würde die Bannmauer einstürzen, und die bösen Mächte, die hinter ihr gefangen waren, würden hervorbrechen. Und wenn sie erst einmal frei waren, würden sie an dem Volk der Elfen Rache üben. Es sei denn, es geschah ein Wunder, und es fand sich ein Zauberer, der das verhindern konnte.

Draußen, vor der Mauer zu den Gärten des Lebens, blieb Andor stehen. Langsam und tief holte er Atem, um wenigstens eine gewisse innere Ruhe zu finden und das Gefühl der Hilflosigkeit zu ersticken, das sich im Laufe des Tages wie eine bösartige Krankheit wuchernd in ihm ausgebreitet hatte. Was im Namen der Vernunft sollten sie tun? Selbst als die Erwählten noch am Leben gewesen waren, hatten sie wenig Hoffnung gehabt, das Blutfeuer rechtzeitig zu finden. Jetzt aber, da die Erwählten tot waren…

Amberle. Flüsternd wob ihr Name durch seinen Geist. Amberle. Die letzten Worte, die Lauren mit ihm gesprochen hatte, hatten ihr gegolten. Vielleicht, so hatte der junge Elf gemeint, könnte sie helfen. Zu diesem Zeitpunkt war Andor das unmöglich erschienen. Jetzt aber schien auch die geringste Möglichkeit besser als Untätigkeit. Andors Gedanken rasten. Wie konnte er seinen Vater davon überzeugen, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß Amberle ihnen helfen konnte? Wie konnte er seinen Vater auch nur dazu bewegen, mit ihm über das Madchen zu sprechen? Er erinnerte sich, wie bitter und enttäuscht der alte König an dem Tag gewesen war, als er von Amberles Verrat an ihrer hohen Aufgabe gehört hatte. Dagegen stand die Verzweiflung, die Andor an diesem Morgen im Gesicht seines Vaters gelesen hatte, als er ihm die Nachricht von der Ermordung der Erwählten überbracht hatte. Sein Entschluß war leicht gefaßt. Der König brauchte dringend Hilfe, ganz gleich, woher sie kam. Und da Arion ins Sarandanon gereist war, mußte Andor, das war ihm klar, ihm diese Hilfe geben. Wie sonst aber konnte er ihm helfen als damit, daß er ihm vorschlug, Amberle ausfindig zu machen?

»Elfenprinz?«

Die Stimme drang aus dem Nichts. Andor erschrak und fuhr mit einem unterdrückten Aufschrei zurück. Ein Schatten glitt aus dem Schutz der Fichten, die dicht an der Mauer zu den Garten des Lebens wuchsen. Ein Schatten, der dunkler war als die Nacht, die ihn umhüllte. Einen Moment lang stockte Andor der Atem, und er war wie erstarrt in Unschlüssigkeit. Als er dann hastig nach dem kurzen Schwert griff, das er in seinem Gürtel trug, war der Schatten schon bei ihm, und eine Hand legte sich auf die seine, während eiserne Finger seinen Arm zurückhielten.

»Friede, Andor Elessedil.« Die Stimme klang leise, aber gebieterisch. »Ich bin kein Feind von Euch.«

Die schemenhafte Gestalt war, wie Andor jetzt sah, die eines hochgewachsenen Menschen, der gut über sieben Fuß maß. Der magere, sehnige Körper war dicht in schwarze Gewänder vermummt, und die Kapuze des Reisemantels umschloß den Kopf des Mannes so eng, daß von seinem Gesicht nichts zu erkennen war außer den schmalen Augenschlitzen, die wie die einer Katze glühten.

»Wer seid Ihr?« stieß der Elfenprinz schließlich hervor.

Der Fremde hob die Hände und schlug die Kapuze zurück, um die Züge des Antlitzes zu offenbaren, die sich darunter verbargen. Es war ein zerfurchtes und verwittertes Gesicht, beschattet von einem kurzen schwarzen Bart, der einen breiten, ernsten Mund umrahmte. Das Haar trug der Mann schulterlang. Die durchdringenden, blitzenden Katzenaugen lagen tief unter dichten, buschigen Brauen, die über einer langen, flachen Nase grimmig gerunzelt waren. Diese Augen blickten Andor ins Gesicht, und der Elfenprinz gewahrte, daß er unfähig war, den eigenen Blick von ihnen zu wenden.

»Euer Vater würde mich kennen«, flüsterte der Fremde. »Ich bin Allanon.«

Andor erstarrte. Ungläubigkeit breitete sich auf seinen Zügen aus.

»Allanon?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Aber — aber Allanon ist tot!«

Sarkasmus lag in der tiefen Stimme, und die Augen glühten wieder auf.

»Habt Ihr den Eindruck, daß ich tot bin, Elfenprinz?«

»Nein — nein, ich kann ja sehen …« Andor stockte. »Aber es ist mehr als fünfzig Jahre her…«

Er brach ab, als die Erinnerungen an die Erzählungen seines Vaters erwachten: die Suche nach dem Schwert von Shannara; die Rettung Eventines aus dem Lager der feindlichen Heere; die Schlacht bei Tyrsis; die Besiegung des Dämonen-Lords durch den kleinen Talbewohner Shea Ohmsford. Während all dieser Ereignisse war Allanon zur Stelle gewesen, um den belagerten Völkern der vier Länder mit seiner Kraft und seiner Weisheit Beistand zu leisten. Als alles vorüber war, der Dämonen-Lord geschlagen, war Allanon verschwunden. Shea Ohmsford, so hieß es, war der letzte gewesen, der ihn noch einmal gesehen halte. Später waren Gerüchte kursiert, daß Allanon zu anderen Zeiten und an anderen Orten in einem der vier Länder erschienen war. Doch nach Westland, zu den Elfen, war er nicht gekommen. Keiner von ihnen hatte erwartet, ihn je wieder zu sehen. Doch, wie sein Vater ihm häufig bedeutet hatte, bei den Druiden lernte man rasch, das Unerwartete erwarten. Ewiger Wanderer, Historiker, Philosoph und Zauberer, Hüter der Rassen, letzter Vertreter der uralten Druiden, der Weisen der neuen Welt — all dies, hieß es, sei Allanon gewesen.

Doch war dieser Fremde wirklich Allanon?

»Seht mich an, Elfenprinz«, befahl der hochgewachsene dunkle Mann und trat einen Schritt näher. »Ihr werdet erkennen, daß ich die Wahrheit spreche.«