»Sie marschieren direkt gegen den Carolan — alle.« Er warf einen Blick hinunter auf die angreifenden Dämonen, die sich in den Wassern des Singenden Flusses wälzten. Dann machte er kehrt und schickte sich an, wieder den Wall hinaufzusteigen. »Ich lasse Dancer noch ein paar Minuten rasten, dann fliege ich zurück und sehe mir alles noch einmal an. Viel Glück, Herr!«
Andor hörte ihn kaum.
»Wir müssen sie hier halten«, murmelte er beinahe zu sich selbst.
Unten tobte schon die Schlacht. Am Ufer des Flusses standen in dichten Reihen die Bogenschützen des Elfenheeres, und ihre Langbogen summten und vibrierten, während ein Hagelschauer von Pfeilen nach dem anderen auf die Masse wogender Leiber in den Wassern des Singenden Flusses niederging. Von jenen Ungeheuern, die mit Schuppen und Lederhäuten gepanzert waren, prallten die Pfeile ab, ohne Schaden anzurichten; viele aber fanden auch ihr Ziel, und die Schreie der Getroffenen übertönten schrill das Geheul der Angreifer. Dunkle Körper bäumten sich auf und versanken in den brodelnden Wassern, um von den nachfolgenden Wellen wütender Angreifer auf den Grund des Flusses gestampft zu werden. Pfeile mit Feuerspitzen schlugen in Boote, Flöße und Holzblöcke ein. Doch die meisten wurden rasch gelöscht, und die Wasserfahrzeuge brandeten weiter voran. Immer wieder die Bogenschützen in die voranstürmenden Horden hinein, die aus den Wäldern in den Fluß strömten, doch die Dämonen ließen nicht locker. Das ganze westliche Ufer und der Fluß waren schwarz von den Ungeheuern.
Da stieg auf der Höhe des Carolan ein vielstimmiger Schrei auf, und Freudenrufe schallten durch den Morgen. Im Zwielicht des frühen Morgens wandten die Elfen die Köpfe in die Richtung, um zu sehen, was es gab. Ungläubigkeit und Freude spiegelten sich auf ihren Gesichtern, als ein hochgewachsener, grauhaariger Reiter auftauchte. Von Mund zu Mund pflanzten sich die Freudenrufe fort bis hinunter zu den vordersten Linien am Singenden Fluß.
»Eventine! Eventine!«
Die Elfen waren wie verwandelt, von neuer Hoffnung, neuem Glauben, neuem Leben erfüllt. Denn hier war der König, der beinahe sechzig Jahre über sie geherrscht hatte — für viele ihr ganzes Leben lang. Hier war der König, der gegen den Dämonen-Lord in den Kampf gezogen war und schließlich über ihn triumphiert hatte. Hier war der König, der sein Volk sicher durch jede Krise geführt hatte. Am Halys-Joch verwundet, schon verloren geglaubt, war er zu ihnen zurückgekehrt. Da konnte das Böse, ganz gleich, wie ungeheuerlich es war, nicht siegen.
Eventine!
Und doch stimmte da etwas nicht. Andor erkannte es, sobald sein Vater vom Pferd stieg und zu ihm trat. Dies war nicht, wie das Volk glaubte, der alte Eventine. Er sah in den Augen des Königs eine Distanz, die den Herrscher der Elfen von allem trennte, was rund um ihn geschah. Es war, als habe er sich in sich selbst zurückgezogen, nicht aus Furcht oder Unsicherheit, denn diese konnte er meistern, sondern aus einer tiefen Traurigkeit heraus, die seinen Lebensmut gebrochen zu haben schien. Gewiß, er sah stark aus, die Maske seines Gesichts zeigte Entschlossenheit und eisernen Willen, und er begrüßte jene um ihn herum mit den alten, vertrauten Worten der Ermutigung. Doch die Augen verrieten den Schmerz, die Trostlosigkeit, die sich in seinem Herzen breitgemacht hatten. Sein Sohn las es in ihnen und bemerkte, daß auch Allanon es las. Es war nur die leibliche Hülle des Königs, die an diesem Morgen heranritt, um seinem Volk nahe zu sein. Vielleicht hatten der Tod Arions und Kael Pindanons diese Zerstörung angerichtet; vielleicht die Verwundung, die er am Halys-Joch erlitten hatte, die Niederlage seines Heeres dort, oder die schreckliche Verheerung seines Landes; wahrscheinlich war die Ursache all dies zusammen und noch etwas — der Gedanke an die Niederlage, das Wissen, daß, sollten die Elfen diese Schlacht verlieren, ein Unheil über die Vier Länder hereinbrechen würde, das niemand aufhalten konnte, das über alle Rassen herfallen und sie verschlingen würde. Die Verantwortung dafür, dies zu verhindern, lag bei den Elfen, und bei keinem mehr als bei ihm, Eventine, denn er war ihr König.
Andor verbarg die Trauer, die er empfand, und umarmte seinen Vater mit Wärme. Dann trat er zurück und hielt den Ellcrys-Stab hoch.
»Das gehört Euch, Herr!«
Eventine schien einen Moment lang zu zögern, dann schüttelte er langsam den Kopf.
»Nein, Andor. Er gehört jetzt dir. Du mußt ihn für mich tragen.«
Stumm betrachtete der Elfenprinz seinen Vater. In den Augen des alten Mannes gewahrte er etwas, was ihm zuvor entgangen war. Sein Vater wußte. Er wußte, daß er nicht gesund war, wußte, daß in ihm eine Veränderung vorgegangen war. Er mochte den anderen etwas vorspielen, seinem Sohn gegenüber wollte er es nicht.
Andor nahm den Stab an sich.
»Dann stellt Euch zu mir auf den Wall, Herr«, bat er leise.
Sein Vater nickte, und zusammen stiegen sie zum Wall hinauf.
Unten eroberten in diesem Augenblick die ersten Dämonen das Ostufer des Singenden Flusses. Mit Wutgeschrei hoben sie sich aus dem Wasser und rannten gegen die Lanzen und Piken an, die hinter den Verschanzungen der Elfen warteten. Bald wälzten sich überall, an der gesamten Verteidigungslinie entlang, Dämonen aus den dunklen Wassern des Singenden Flusses. Gehörnt und klauenbewehrt, mit reißenden Zähnen und aufgerissenen Rachen stürzten sie sich auf die Verteidiger, die ihnen den Weg versperrten. In der Mitte der Abwehrmauer stellten sich Stee Jans und die Reste der Freitruppe dem Ansturm der Dämonen entgegen. An der vordersten Front stand der hünenhafte Grenzländer mit dem roten Haar, das breite Schwert hoch erhoben. An den Flügeln ermutigten Ehlron Tay und Kerrin von der Leibgarde ihre Soldaten, tapfer auszuharren.
Doch schließlich konnten sie dem Ansturm der Dämonenhorden nicht mehr widerstehen. Die Linien gerieten ins Wanken. Riesenhafte Ungeheuer brachen durch die Abwehrmauer und schlugen Breschen in die niedrigen Schanzwälle, um den Nachkommenden den Weg freizumachen. Die Wasser des Singenden Flusses waren schwarz von Dämonenblut und verkrümmt dahintreibenden Leibern. Doch für jeden, der fiel, kamen drei neue. Oben beim Tor der zweiten Terrasse des Elfitch gab Andor den Befehl zum Rückzug. Rasch gaben die Elfen und ihre Verbündeten die einstürzende Flußmauer auf und glitten in den dahinter liegenden Wald, um auf geheimen Pfaden die Sicherheit der Rampe zu erreichen. Noch bevor die Dämonen sich’s versahen, hatten sich die Verteidiger hinter die schützenden Mauern der Rampe zurückgezogen, und das Tor schloß sich hinter ihnen.
Augenblicklich jagten die Dämonen ihnen nach. In wilden Scharen strömten sie durch den Wald am Fuß der Felsen und verfingen sich in Hunderten von Netzen und Fallen, die die Elfen dort gelegt hatten. Viele stürzten auch in die mit Laub und Zweigen getarnten Gruben, welche die Elfen ausgehoben hatten. Einige Augenblicke lang geriet der Sturmangriff ins Stocken. Doch als die Zahl der Dämonen am Flußufer sich mehrte, überrannten die nachfolgenden Massen jene ihrer Brüder, die in die Fallen geraten waren, und wälzten sich schon die Rampe des Elfitch herauf. Rasch hatten sie sich gesammelt und griffen an. Nebeneinander und übereinander erklommen sie in Schwärmen die Mauern und ergossen sich über die Verschanzungen der unteren Stufe. Die Elfen wurden zurückgetrieben; ehe das Tor zur zweiten Stufe geschlossen werden konnte, war das erste gefallen.
Und immer noch stürmten die Dämonen vorwärts, schoben sich in gewaltiger Flut die Rampe herauf zum zweiten Tor. Sie zogen sich an den Wällen hoch und erklommen selbst die schroffe Felswand wie die Insekten. Ein wogendes Getümmel kreischender, heulender Ungeheuer wälzte sich die Rampe und die Felswand herauf. Die Elfen waren voller Entsetzen. Der Fluß hatte die Dämonen nicht aufhalten können. Die Verschanzungen an seinem Ufer waren innerhalb von Minuten überrannt worden. Jetzt war die erste Stufe des Elfitch verloren, und selbst die Felswand schien die Ungeheuer nicht abhalten zu können. Es sah aus, als würden sich all ihre Abwehrmaßnahmen als nutzlos erweisen.