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Und dennoch ritt er dann an ihr vorbei. Hätte Eretria ihn nicht mit einem lauten Ruf aufmerksam gemacht, wäre er vielleicht bis zu den Bergen in östlicher Richtung weitergeritten. Verdutzt riß er sein Pferd herum und jagte wieder zurück. Jetzt aber hatte Eretria die Führung übernommen. Besser vertraut mit dem Pfad als er, galoppierte sie nun voraus und rief ihm zu, ihr zu folgen. Neuerlich überrascht, hetzte er ihr nach.

Es war ein anstrengender Gewaltritt. Die Finsternis war so dicht, daß selbst die scharfen Augen Eretrias kaum den Pfad ausmachen konnten, der sich in endlosen Windungen durch den Wald schlängelte. Mehrmals wären die Pferde beinahe gestürzt, konnten gerade in letzter Sekunde noch einem Graben oder einem umgestürzten Baumstamm ausweichen, der quer über dem schmalen Weg lag. Doch diese Pferde, von den besten Reitern der Vier Länder abgerichtet, reagierten mit einer Schnelligkeit und Wendigkeit, wie Wil sie noch nie erlebt hatte.

Dann waren sie plötzlich auf dem Pfad, auf dem Amberle und Wil nachSüden gewandert waren, zur Senke, und Äste und Ranken schlugen ihnen scharf in die Gesichter, während aus den Pfützen und Furchen schlammiges Wasser zu ihnen heraufspritzte. Ohne das Tempo zu verlangsamen, wandten sie sich nach Süden.

Nach einem endlos langen Ritt, wie es Wil schien, erreichten sie den Rand der Senke. Schwarz lag sie zu ihren Füßen wie ein bodenloses Loch in der Erde. Mit harter Hand zugehen sie ihre Pferde und sprangen aus den Sätteln. Tiefe Stille hing über der Senke. Wil zögerte nur eine Sekunde, dann machte er sich auf die Suche nach den Büschen, in deren Schutz er Amberle zurückgelassen hatte. Er fand sie beinahe augenblicklich und brach durch Äste und Laub in ihre Mitte. Aber dort war niemand. Panik drohte ihn zu übermannen. Verzweifelt suchte er nach irgendeinem Zeichen, das ihm verraten hätte, was dem Elfenmädchen zugestoßen war; doch er fand nichts. Seine Angst wurde noch größer. Wo war sie? Er stand auf und sprang wieder aus dem Gebüsch heraus. Vielleicht war dies das falsche, dachte er plötzlich, und sah sich nach einer anderen Gruppe von Büschen um. Nein, es gab keinen Zweifel, er hatte Amberle in diesem Gebüsch zurückgelassen.

Eretria eilte zu ihm.

»Wo ist sie?«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte er, das schmale Gesicht von Schweiß überströmt. »Ich kann sie nicht finden.«

Mit großer Willensanstrengung gelang es ihm, sich wieder in die Gewalt zu bekommen. Denk nach, ermahnte er sich. Entweder ist sie geflohen oder der Raffer hat sie getötet. Wenn sie geflohen ist, wohin kann sie sich dann gewendet haben? Er blickte in die Senke hinunter. Dorthin, sagte er sich — zur Hochwarte oder in ihre nächste Nähe. Was aber, wenn der Raffer sie getötet hatte? Was dann? Doch er hatte sie nicht getötet, das sah er jetzt, denn nirgends gab es Spuren eines Kampfes. Sie hätte sich gewehrt; sie hätte ihm irgendein Zeichen hinterlassen. Wenn sie jedoch geflohen war, dann hatte sie gewiß sorgsam darauf geachtet, nur ja nichts zurückzulassen, was ihrem Verfolger ihre Anwesenheit verraten hätte.

Er holte tief Atem. Sie mußte geflohen sein. Dann aber schoß ihm ein neuer Gedanke durch den Kopf. Er ging ständig davon aus, daß Amberle vor dem Raffer geflohen war. Was aber, wenn es nicht der Raffer gewesen war, sondern irgendein Wesen, das aus der Senke hervorgekommen war? Verzweifelt schüttelte er den Kopf. Es gab keine Gewißheit. In dieser Finsternis konnte er nicht hoffen, eine Spur zu finden. Entweder würde er bis zum Morgen warten müssen, und da war es dann vielleicht zu spät, Amberle noch zu helfen, oder…

Oder er würde die Elfensteine gebrauchen müssen.

Er wollte gerade nach dem Beutel greifen, als Eretria ihn plötzlich amArm faßte. Überrascht fuhr er zusammen.

»Heiler!« flüsterte sie. »Da kommt jemand!«

Er spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Einen Moment lang stand er wie versteinert, während sein Blick dem des Mädchens folgte, der nach Norden gerichtet war, den Pfad hinauf, über den sie soeben geritten waren. In seinen Schatten bewegte sich etwas. Furcht stieg in Wil auf. Seine Hand griff unter den Kittel und zog die Elfensteine heraus. Eretria riß einen Dolch aus ihrem Stiefel. Seite an Seite blickten sie reglos dem sich nähernden Schatten entgegen.

»Immer ruhig Blut!« rief ihnen eine vertraute Stimme zu.

Wil sah Eretria an, sie blickte ihn an. Langsam senkten sie Elfensteine und Dolch. Die Stimme gehörte zu Hebel. Eretria machte mit gesenkter Stimme eine kurze Bemerkung und lief davon, um die Pferde zurückzuholen, die in den Wald hineingetrottet waren.

Und den Pfad herunter kam Hebel, den zottigen Drifter dicht an seiner Seite. Der alte Mann trug die lederne Kleidung des Waldläufers; auf dem Rücken hatte er einen Sack, an seiner Schulter hingen Pfeil und Bogen, am Gürtel ein Jagdmesser. Schwer auf seinen knorrigen Stock gestützt, kam er ihnen entgegen. Sie konnten sehen, daß er von Kopf bis Fuß mit Schlamm bespritzt war.

»Ihr hättet mich beinahe überrannt, ist Euch das klar«, fuhr er Wil an. »Schaut mich an! Wenn ich so dumm gewesen wäre, ein bißchen weiter auf den Pfad hinauszutreten, als ich Euch da hinten anrief, läge ich jetzt von Hufen zertrampelt im Schlamm. Was denkt Ihr Euch eigentlich dabei, wie die Wilden durch den Wald zu jagen? Da draußen ist es so schwarz wie in einem Grab, und Ihr reitet hier durch, als wär’s heller Tag. Warum habt Ihr nicht angehalten, als ich Euch angerufen hab’?«

»Weil wir Euch nicht gehört haben«, antwortete Wil verwirrt.

»Ja, weil Ihr Eure Ohren nicht aufgesperrt habt, wie sich das gehört.« Hebel war nicht bereit, so schnell zu vergeben. Dicht trat er vor Wil hin. »Den ganzen Tag hab’ ich gebraucht, um hierher zu kommen — den ganzen Tag. Ohne Pferd, wohlgemerkt.

Wieso habt Ihr so verflixt lange gebraucht? So, wie Ihr da eben an mir vorbeigaloppiert seid, hättet Ihr doch schon längst hier sein müssen!«

Jetzt erst gewahrte er Eretria, die mit den Pferden aus den Büschen trat.