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Nachdem sie mit ihren Überlegungen soweit gekommen war, fühlte sie sich etwas besser und war nicht mehr ganz so angespannt. Sie versuchte, ein wenig von dem Gebiet zu sehen, durch das sie getragen wurde. Das war schwierig; durch das Dickicht der Bäume waren nicht einmal die Sterne und der Mond zu sehen, alles war in tiefste Finsternis gehüllt. Wären nicht die vertrauten Gerüche des Waldes gewesen, so hätte sie vielleicht nicht einmal gemerkt, daß sie sich in einem Wald befand. Das Schweigen war tief. Die wenigen Laute, die sie vernahm, kamen aus weiter Ferne, Schreie aus der Wildnis jenseits der Senke.

Aber dann fiel ihr plötzlich auf, daß da doch noch ein anderes Geräusch war, ein Schaben und Knacken, als ob die Zweige eines Baumes sich im Winde aneinander rieben; aber es ging kein Wind, und das Geräusch kam von unten, nicht von oben. Das Wesen, das sie trug, machte dieses Geräusch.

Flüchtig wanderten ihre Gedanken zu Wil, und sie versuchte sich vorzustellen, was er an ihrer Stelle tun würde. Unwillkürlich mußte sie lächeln. Weiß der Himmel, mit was für einem Bravourstück Wil versuchen würde, sich aus einer solchen Situation zu retten, dachte sie. Dann fragte sie sich, ob sie ihn je Wiedersehen würde.

Sie spürte, wie ihre Muskeln sich verkrampften und überlegte, ob sie es wagen konnte sie ein wenig zu lockern, ohne sich zu verraten. Versuchsweise streckte sie die Beine, tat so, als bewegte sie sich im Schlaf. Die Finger, die sie umklammert hielten, folgten ihrer Bewegung, lockerten aber nicht den Griff.

Das Plätschern fließenden Wassers drang an ihr Ohr, wurde merklich lauter. Sie roch das Wasser jetzt, frisch und nach Waldblumen duftend — ein Bach, der sprudelnd durch die Stille des Waldes sprang. Dann war er unter ihr, und das Knistern von Ästen und die Geräusche danach gingen in seinem Geplätscher unter. Schritte widerhallten dumpf auf hölzernen Planken, und sie wußte, daß man sie über einen Steg getragen hatte. Das Gurgeln des Baches wurde leiser. Ketten klirrten und rasselten, als würden sie eingeholt, und dann folgte ein dumpfer Schlag. Irgend etwas hatte sich hinter ihr geschlossen, eine Tür — eine sehr schwere Tür. Eine Eisenstange und mehrere Riegel knirschten. Sie hörte es ganz deutlich. Wie zuvor flutete die kühle Nachtluft über ihr Gesicht, doch sie brachte den unverwechselbaren Geruch von Stein und Mörtel mit. Wieder stieg Furcht in ihr auf. Sie befand sich innerhalb von steinernen Mauern, in einem Hof vielleicht, und wurde jetzt, das glaubte sie jedenfalls, in ein Gefängnis getragen. Wenn es ihr nicht gelang, sich sofort zu befreien, würde sie nie mehr freikommen. Doch die Finger, die sie umklammerten, lockerten sich nicht, und es waren ihrer viele. Es würde sie eine ungeheure Anstrengung kosten, sich ihnen zu entreißen, und sie glaubte nicht, daß sie noch soviel Kraft besaß. Und wohin, dachte sie niedergeschlagen, sollte sie sich dann wenden, wenn es ihr wirklich gelang, sich zu befreien?

Wieder wurde eine Tür geöffnet. Sie knarrte leise. Noch immer war nirgends ein Lichtschein zu sehen; nichts als Schwärze umgab sie.

»Hübsch«, sagte plötzlich eine Stimme, und Amberle fuhr erschrocken zusammen.

Sie wurde weitergetragen. Hinter ihr schloß sich die Tür, und die Gerüche des Waldes blieben zurück. Sie war drinnen — aber wo drinnen? Durch lange, gewundene Gänge führte der Weg. Es roch nach Moder und Feuchtigkeit. Aber auch einen anderen Geruch konnte sie noch ausmachen, einen schweren Duft nach Räucherwerk oder Parfüm. Tief atmete sie den Duft ein, und einen Moment lang schwamm ihr der Kopf.

Dann endlich, ganz plötzlich und unerwartet, sah sie Licht, das schimmernd durch einen hohen Torbogen fiel. Amberle, deren Augen noch an die Finsternis gewöhnt waren, blinzelte geblendet. Sie wurde durch den Torbogen getragen und dann eine Wendeltreppe hinunter. Das Licht blinkte über ihr, blieb kurz zurück, folgte ihr dann schwankend durch die Dunkelheit.

Ihre Träger hielten an. Sie spürte, wie sie auf einen dicken gewobenen Teppich hinuntergelassen wurde. Die hölzernen Finger ließen sie los. Sie stützte sich auf einen Ellenbogen und blickte blinzelnd zum Licht. Einen Moment lang hing es direkt vor ihren Augen, dann zog es sich langsam hinter einer Wand aus Eisenstangen zurück. Eine Tür flog zu, und das Licht war fort.

Kurz bevor es verschwand, sah Amberle flüchtig die Wesen, die sie gefangengenommen hatten. Ihre schmalen Gestalten hoben sich klar aus dem weißen Licht. Sie schienen aus Holzstöckchen gemacht zu sein.

Auf dem Grund der Senke gab Wil das Zeichen zum Anhalten. Es war so finster, daß er kaum die Hand vor Augen sehen konnte; er konnte weder Hebel noch Eretria erkennen, und auch sie konnten ihn nicht sehen. Wenn sie unter diesen Bedingungen einfach losmarschierten, würden sie einander bald verlieren und sich hoffnungslos verlaufen. Er wartete ein paar Augenblicke, bis sein Blick schärfer wurde. Doch viel half das nicht. Die Senke blieb ein finsteres Meer von Schatten, in dem einzelne Formen kaum auszumachen waren.

Hebel hatte schließlich einen Einfall, wie das Problem zu lösen war. Nachdem er aus dem Sack, den er über der Schulter trug, ein Seil herausgenommen hatte, pfiff er nach Drifter und machte ein Ende des Seils an dem Hund fest; das andere Ende schlang er um seine Hüfte, dann um Wil und Eretria. Auf diese Weise aneinandergebunden, konnten sie einander folgen, ohne Angst haben zu müssen, getrennt zu werden. Der alte Mann prüfte das Seil, dann redete er kurz auf Drifter ein. Der große Hund trottete los.

Wil schien es, als wanderten sie stundenlang durch die Senke. Stolpernd schlugen sie sich durch einen Irrgarten von Bäumen und Büschen, blind fast in der undurchdringlichen Finsternis, den Instinkten des Hundes vertrauend, der sie führte. Sie sprachen nicht miteinander, sondern glitten so leise sie konnten durch den Wald. Nur allzu bewußt waren sie sich der Tatsache, daß irgendwo in diesem Wald der Raffer lauerte. Nie zuvor hatte sich Wil so hilflos gefühlt wie in diesen Augenblicken. Es war schlimm genug, daß er kaum etwas sehen konnte; noch schlimmer aber war das Wissen, daß der Raffer mit ihnen hier unten war. Ständig dachte er an Amberle. Wenn er schon Angst hatte, wie mußte es dann für sie sein? Er schämte sich seiner Furcht. Er hatte kein Recht, sich zu fürchten, während sie doch allein und schutzlos war, da er sie in diese Lage gebracht hatte.

Doch die Furcht ließ ihn nicht los. Um sie abzuschütteln, nahm er den Beutel mit den Elfensteinen in eine Hand und umklammerte ihn so fest, als könnte ihn allein die Tatsache, daß er ihn hielt, gegen alles Unheil schützen, das sich in der Nacht dieses Waldes verbarg. Tief im Inneren jedoch blieb das schreckliche Gefühl, daß die Elfensteine ihn nicht schützen würden, daß ihre Kräfte ihm nicht gehorchten und nie gehorchen würden. Was Amberle ihm gesagt hatte und was er selbst sich gesagt hatte, spielte keine Rolle. Dieses Gefühl beruhte nicht auf logischen Gründen, es war einfach da — quälend, beängstigend. Die Zauberkraft der Elfensteine war ihm verloren.

Er bemühte sich noch immer, das Gefühl abzuschütteln, als das Seil vor ihm plötzlich erschlaffte. Beinahe wäre er gegen Hebel geprallt, der abrupt stehengeblieben war. Eretria lief in ihn hinein, und dicht zusammengedrängt standen die drei nun beieinander und spähten in die Finsternis.

»Drifter hat was gefunden«, flüsterte der Alte Wil zu.

Auf den Knien kroch er bis zu seinem Hund hin, der auf dem Boden herumschnupperte. Wil und Eretria folgten ihm. Beschwichtigend streichelte er den Hund und tastete mit der Hand die Erde ab. Dann stand er auf.