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»Mallenroh.« Er sprach den Namen leise. »Sie hat das Elfenmädchen.«

»Seid Ihr sicher?« flüsterte Wil zurück.

Der Alte nickte. »Ganz sicher. Dieses Ungeheuer, der Raffer, ist jetzt irgendwo anders. Drifter wittert ihn jetzt nicht mehr.«

Wil verstand nicht, wie Hebel all dieser Details so sicher sein konnte, zumal es so finster war, daß man beim besten Willen nichts sehen konnte. Doch es wäre sinnlos gewesen, sich mit ihm zu streiten.

»Was tun wir jetzt?« fragte er ratlos.

»Wir gehen weiter«, brummte Hebel. »Drifter — lauf, alter Bursche.«

Der Hund setzte sich wieder in Bewegung, und die drei Menschen folgten ihm. Allmählich begann der Wald sich zu lichten. Zuerst glaubte Wil, seine Augen spielten ihm Streiche, doch schließlich erkannte er, daß die Nacht sich ihrem Ende zuneigte, und ein neuer Tag heraufzuziehen begann. Bäume und Büsche rundum begannen Gestalt anzunehmen, und das Zwielicht erhellte sich langsam, während das schwache Licht der ersten Sonnenstrahlen durch das Dach des Waldes fiel. Zum ersten Mal seit sie in die Senke hinuntergestiegen waren, konnte Wil die zottige schwarze Gestalt Drifters erkennen, der mit gesenktem Kopf voranlief.

Während Wil den Hund noch beobachtete, hob der plötzlich den Kopf und blieb stehen. Verwundert machten auch die drei Menschen halt. Vor ihnen stand das merkwürdigste Geschöpf, das sie je gesehen hatten. Ein menschenähnliches Wesen, das aus Stöcken gemacht war — zwei Arme, zwei Beine und ein Körper, ganz aus Stöcken gebildet. Knorrige Wurzeln an den Enden von Armen und Beinen waren Finger und Zehen. Das Wesen hatte keinen Kopf. Es blickte sie an — zumindest glaubten sie, daß es sie anblickte, da die Wurzeln, die Finger und Zehen bildeten, in ihre Richtung zu deuten schienen. Der dünne Körper schwankte leicht wie ein junges Bäumchen in einem plötzlichen Windstoß. Dann drehte sich das merkwürdige Wesen um und stakste in den Wald zurück.

Hebel warf einen raschen Blick auf die anderen beiden.

»Ich hab’s Euch gesagt. Das ist Mallenrohs Werk.«

Hastig winkte er ihnen zu und eilte schon dem Holzgeschöpf nach. Wil und Eretria tauschten einen zweifelnden Blick, dann folgten sei ihm. Stumm marschierte der kleine Zug auf verschlungenen Pfaden durch das Gewirr des Waldes. Nach einer Weile tauchten rundum andere Holzmännchen auf, genau wie der , dem sie zuerst begegnet waren; kopflose, knorrige Wesen, die sich, abgesehen von dem leichten schabenden Geräusch, das sie beim Gehen verursachten, völlig lautlos bewegten, Beinahe ehe sich’s die Menschen versahen, waren sie von Dutzenden der Geschöpfe umringt, die wie Geister durch die Schatten wanderten.

»Ich hab’s Euch gesagt«, flüsterte Hebel wieder, und sein zerknittertes Ledergesicht war voller Eifer.

Plötzlich hörte der Wald auf. Vor ihnen erhob sich ein einsamer Turm, dessen dunkle Spitze in die Bäume hineinragte, die ihn umgaben. Er thronte auf einer kleinen Anhöhe, ein beinahe fensterloses Verlies auf uraltem Stein, der verwittert war und dicht überwuchert von Rankenpflanzen und Moos. Die Anhöhe war zu einer Insel geworden, eingeschlossen von einem Bach, der irgendwo aus der Tiefe des Waldes hervorsprang und in Windungen den Hügel umrundete, ehe er sich wieder in den Bäumen verlor. Eine niedrige Mauer, die nahe am Ufer des Baches errichtet war, umschloß den Turm; die Zugbrücke stand offen, überspannte das sprudelnde Wasser des Baches, und ihre Ketten hingen schlaff von kleinen Wachhäuschen zu beiden Seiten herab. Rund um den Hügel und dem Turm breiteten mächtige alte Eichen ihre Zweige aus und schirmten die Insel vom Tageslicht ab, so daß sie genau wie die übrige Senke tief im Schatten lag.

Das Holzmännchen, dem sie gefolgt waren, blieb stehen. Es machte eine leichte Wendung, so als wolle seine kopflose Gestalt sich vergewissern, daß sie noch nachkamen. Dann setzte es sich wieder in Bewegung, marschierte auf die Zugbrücke zu. Ohne einen Augenblick des Zögerns schlurfte Hebel ihm hinterher, Drifter an seiner Seite. Wil und Eretria blieben einen Augenblick zurück; sie waren nicht so sicher wie der Alte, ob sie dem Führer folgen sollten. Der Turm war ein unerfreulicher, abschreckender Bau; sie wußten, daß es für sie besser war, ihn nicht zu betreten, wußten, daß sie sich bereits viel weiter vorgewagt hatten, als klug war. Doch Wil spürte irgendwie, daß er hier Amberle finden würde. Er warf Eretria einen Blick zu, dann gingen sie weiter.

Dem schweigsamen Holzmännchen folgend, und rings von der Schar seiner Brüder umgeben, marschierte der kleine Zug zum Bachufer hinunter. Nur die Schabegeräusche der hölzernen Glieder und das Plätschern des Baches waren in der Stille des Waldes zu hören. Das Holzmännchen trat auf die Brücke und überquerte sie. Im Schatten des Tores verschwand es. Die beiden Männer, das Mädchen und der Hund schritten nach ihm über die Brücke, wobei Wil und Eretria immer wieder furchtsame Blicke auf den massigen, finsteren Bau warfen, der auf der anderen Seite wartete.

Dann hatten sie das Tor erreicht. Das Holzmännchen tauchte wieder auf, stand jetzt genau jenseits des schattigen Torbogens. Als sie, in einer Linie hintereinander, sich näherten, setzte es sich erneut in Bewegung und steuerte auf den Turm zu. Kaum hatten sie das Tor hinter sich gelassen, da hörten sie das Knirschen und Klirren der Ketten. Die Zugbrücke hinter ihnen wurde hochgezogen.

Jetzt gab es kein Zurück. Dicht zusammengedrängt gingen sie dem Turm entgegen. Das Holzmännchen wartete. Es stand in einer hohen Türnische, in deren Schutz sich eine breite, mit Eisenbeschlägen gezierte Flügeltür aus Holz befand. Einer der Flügel stand offen. Das Holzmännchen trat hinein und war verschwunden. Wil blickte an der massigen steinernen Mauer des Turmes empor, dann griff er unter seinen Kittel und zog den Beutel mit den Elfensteinen heraus. Zusammen mit den anderen trat er durch die Tür in schwarze Finsternis.

Einen Augenblick rührte sich keiner. Sie standen gleich jenseits der Schwelle und blinzelten blind in die Düsternis. Dann schwang die Tür hinter ihnen plötzlich zu, und Schlösser schnappten ein. In einem Glaszylinder, der von der Decke herabhing, flammte Licht auf, das einen weichen weißen Schein verbreitete; es war keine Öllampe, und es war keine Pechfackel, es war etwas, das flammenlos brannte. Rundherum standen die Holzmännchen, und ihre krummen, knorrigen Schatten tanzten im Licht an den steinernen Mauern.

Aus der Finsternis hinter ihnen tauchte eine Frau auf, ganz in schwarze Gewänder gekleidet, die mit langen flatternden Bändern aus scharlachrotem Nachtschatten geschmückt waren.

»Mallenroh«, flüsterte Hebel, und Wil Ohmsford spürte, wie die Luft um ihn herum zu Eis wurde.

42

Der zweite Tag der Schlacht um Arborlon gehörte Andor Elessedil. Es war der Tag voll Blut und Schmerz, ein Tag des Todes und des Heldenmutes. Die ganze Nacht hatten unablässig Dämonen-Horden über die Wasser des Singenden Flusses gesetzt, einzeln und in Gruppen, bis schließlich, zum ersten Mal seit sie der Mauer der Verfemung entronnen waren, ihr gesamtes Heer zum Angriff gesammelt stand. Am Fuß des Carolan, von der Felswand zum Flußufer, von Norden bis Süden soweit das Auge reichte, drängten sich die Massen des Feindes, schrecklich anzusehen und unendlich an Zahl. Vor Morgengrauen schlugen sie los. In nicht enden wollenden Wogen brandeten sie gegen die Mauern des Elfitch, rasend und heulend vor Haß. In wilder Flut sprangen sie an den Felshöhen empor, kletterten am kahlen Stein hinauf, kämpften sich mit wütend gefletschten Zähnen durch einen Hagel von Pfeilen. Höher stiegen die Massen, einer Flutwelle gleich, die die Verteidiger, die oben warteten, überschwemmen und mit sich fortreißen würde. Andor Elessedil war es, der alles entschied. Er war, als würde er an diesem Tag endlich der König, der sein Vater gewesen war, der König, der fünfzig Jahre zuvor die Elfen gegen die Heere des Dämonen-Lords geführt hatte. Verflogen waren Mattigkeit und Entmutigung. Verflogen waren die Zweifel, die ihn seit der Schlacht am Halys-Joch gequält hatten. Er glaubte wieder an sich selbst und an die Entschlossenheit jener, die an seiner Seite kämpften. Es war ein historischer Moment, und der Elfenprinz wurde zu seinem Mittelpunkt. Um ihn geschart standen die Heere von vier Rassen, deren Banner im Morgenwind flatterten. Hier waren die silbernen Kriegsadler und die mächtige Eiche der Elfen, das Grau und Rot der Freitruppe, die schwarzen Rösser der alten Garde; dort flogen die Farben der Zwergpioniere, waldgrün, das von der Schlangenlinie des Silberflusses geteilt wurde, und die Standarte der Bergtrolle von Kershal, die einen Hammer und blaue Berggipfel zeigte. Nie zuvor hatten sie alle im selben Wind geflattert. Nie zuvor in der Geschichte der Vier Länder hatten die Rassen sich vereinigt, um gemeinsam für eine Sache zu kämpfen. Troll und Zwerg, Elf und Mensch — die Menschwesen der neuen Welt standen zusammen gegen eine böse Macht aus uralter Zeit. An diesem einen, wunderbaren Tag wurde Andor Elessedil zu dem zündenden Funken, der sie alle zum Leben erweckte.