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Noch ein Stück, und der Tunnel mündete in eine zweite Treppe, die sich dunkel und leer aufwärtswand. An ihrem Fuß blieb Wil stehen bis die anderen ihn eingeholt hatten, dann nahmen sie gemeinsam den Anstieg in Angriff. Lange wanderten sie aufwärts durch die Finsternis, hofften bei jeder neuen Windung der Treppe vergeblich, daß sie dahinter das Tageslicht erblicken würden. Unaufhörlich lauschten sie nach Geräuschen des Ungeheuers, das sie verfolgte. Aber sie hörten nichts. Schweigen lag über dem Schacht und hüllte jene ein, die ihn erklommen.

Schließlich gelangten sie zu einer Falltür, die fest verriegelt war. Mit Gewalt riß Wil den Riegel zurück, drückte seine Schulter gegen die Tür und stemmte sich dagegen. Mit einem gedämpften Krachen flog die Tür auf; wolkenverhangenes, trübes Sonnenlicht ergoß sich in den dunklen Schacht. Hastig krochen die Menschen und der Hund aus dem Bauch der Erde heraus.

Sie standen wieder in der Senke, die sie grau, nebelverhangen und still umgab. Hinter ihnen befand sich der Wasserturm Mallenrohs, in dichte Rauchschwaden eingehüllt, die hoch in die Bäume hinaufstiegen und über Wall und Graben dahinzogen. Der Wald rundum war leer. Der Raffer war nirgends zu sehen.

46

Unsicher blickte Wil sich um. Dunst und Düsternis verschleierte alles außer dem leuchtenden Flackern des Feuers, das noch in Mallenrohs Turm brannte. Nichts sonst war zu erkennen. Wil hatte keine Ahnung, in welcher Richtung sie von hier aus weiterwandern sollten. »Hebel, wo ist die Hochwarte?« fragte er eilig. Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, Elf. Ich kann überhaupt nichts sehen.« Wil zögerte, dann kniete er rasch auf der Erde nieder und ließ den sich windenden Wisp aus der Umklammerung seines Armes frei. Wisp hielt das alte Gesicht in die Hände vergraben, und sein dicht behaarter Körper war zu einer Kugel zusammengerollt. Wil konnte versuchen was er wollte, es gelang ihm nicht, den kleinen Elf dazu zu bewegen, ihn anzusehen. Schließlich gab er es auf. Wisp bei den Schultern haltend, schüttelte er ihn heftig. »Wisp, hör mir zu. Wisp, du mußt mit mir sprechen. Sieh mich an, Wisp!« Da erst spähte der kleine Bursche widerwillig zwischen gespreizten Fingern hervor. Sein kleiner Körper zitterte. »Wisp, wo ist die Hochwarte?« fragte Wil. »Du mußt uns zur Hochwarte führen.« Wisp erwiderte nichts. Stumm starrte er zwischen seinen Fingern hervor, dann schloß er seine Hände wieder. »Wisp!« Erneut schüttelte Wil ihn. »Wisp, antworte mir!« »Wisp dient der Dame!« rief der kleine Elf plötzlich. »Dient der Dame! Dient der Dame! Dient der…« Wil schüttelte ihn, daß seine Zähne klapperten. »Hör auf! Schluß damit! Sie ist tot, Wisp! Die Dame ist tot! Du dienst ihr nicht mehr.« Da verstummte Wisp und langsam sanken seine Hände vom Gesicht herab. Er begann zu weinen. Heftiges Schluchzen schüttelte seinen kleinen Körper. »Wisp nicht weh tun«, flehte er. »Wisp ist brav. Nicht wehtun.« Er zog sich wieder zu einer kleinen behaarten Kugel zusammen und wälzte sich weinend auf dem feuchten Erdboden wie ein verwundetes Tier. Wil blickte hilflos zu ihm hinunter. »Gut gemacht, Heiler.« Eretria seufzte und trat näher. »Du hast ihm ja Todesangst gemacht. In dem Zustand ist er uns bestimmt keine Hilfe.« Sie packte Wil beim Arm und schob ihn weg. »Laß mich das mal machen.«

Wil ging zu Amberle hinüber und sie sahen beide zu, wie Eretria neben dem kleinen Wisp niederkniete und das schluchzende Bündel in die Arme nahm. Leise flüsternd drückte sie den Elf an sich und streichelte den Wuschelkopf. Nach einer Weile hörte Wisp auf zu weinen. Vorsichtig hob er den Kopf ein kleines Stück.

»Hübsche?«

»Es ist alles gut, Wisp.«

»Paßt du jetzt auf Wisp auf, Hübsche?«

»Ja, ich paß auf dich auf.« Sie warf Wil einen strengen Blick zu. »Dir tut keiner etwas.«

»Keiner tut Wisp weh?« Das Altmännergesicht blickte sie an. »Versprichst du mir das?«

Eretria sah ihn mit einem beruhigenden Lächeln an.

»Ja, das verspreche ich dir. Aber du mußt uns dafür helfen, Wisp. Willst du das tun? Willst du uns helfen?«

Der kleine Bursche nickte eifrig.

»Ich helfe dir, Hübsche. Wisp ist brav.«

»Ja, Wisp ist wirklich brav«, stimmte Eretria zu. Dann neigte sie sich nahe zu ihm hinunter. »Aber wir müssen uns beeilen, Wisp. Der Dämon — der, der uns in die Senke verfolgt hat — sucht uns immer noch. Und wenn er uns findet, dann wird er uns allen etwas antun, Wisp.«

Wisp schüttelte ängstlich den Kopf.

»Du mußt Wisp schützen, Hübsche.«

»Natürlich schütze ich dich, Wisp, aber wir müssen uns beeilen.« Sie streichelte seine Wange. »Wir müssen den Berg finden — Heiler, wie heißt er?«

»Die Hochwarte«, sagte Wil.

Sie nickte. »Die Hochwarte. Kannst du uns den Weg dahin zeigen, Wisp? Kannst du uns dahin führen?«

Mißtrauisch sah der kleine Irrwisch Wil an, dann wanderte sein Blick weiter zu dem brennenden Turm. Einen Moment lang blieb er dort liegen, dann kehrte er zu Eretria zurück.

»Ich führe Euch, Hübsche.«

Eretria stand auf und nahm den kleinen Burschen bei der Hand.

»Hab keine Angst. Ich passe auf dich auf, Wisp.«

Als sie an Wil vorübergingen, zwinkerte Eretria.

»Ich hab´ dir ja gesagt, daß du mich brauchst, Heiler.«

Sie verschmolzen mit der Düsternis des Waldes. Eretrias Hand fest umklammert, hüpfte Wisp wie ein Irrlicht durch den Nebel und das Gewirr von Büschen und Bäumen. Ihm folgte Hebel mit Drifter, dann kam Wil mit Amberle. Den Arm um ihre Taille gelegt, stützte er sie, während sie tapfer an seiner Seite hinkte. Dennoch vergrößerte sich der Abstand zu den anderen rasch. In dem Bemühen, sie einzuholen, stolperte Amberle und stürzte. Wil zögerte nicht. Er hob das Elfenmädchen einfach in seine Arme und eilte weiter. Zu seiner Überraschung protestierte Amberle nicht. Er hatte das erwartet, nachdem sie während ihrer gemeinsamen Wanderung so grimmig darauf bestanden hatte, ihre Selbständigkeit zu beweisen. Jetzt aber war sie ganz still. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, und ihre Arme lagen lose um seinen Hals. Nicht ein Wort wurde zwischen ihnen gewechselt.

Flüchtig machte sich Wil Gedanken über dieses veränderte Verhalten, dann aber jagten seine Gedanken zu anderen Dingen. Schon beschäftigte er sich mit einem Plan für ihre Flucht — nicht nur aus der Senke, sondern auch vor dem Raffer. Denn was nützte es ihnen, der Senke zu entkommen, wenn sie nicht auch dem Raffer entkamen. Die Senke war gefährlich, gewiß, doch wirkliche Furcht hatte Wil vor dem Raffer, diesem erbarmungslosen Mörder, den offenbar nichts aufhalten konnte in seiner Suche nach Amberle. Er darf sie nicht finden, dachte Wil. Selbst die Kraft der Elfensteine, sollte es ihm gelingen, ihren Quell wieder zu erschließen, würde vielleicht nicht ausreichen, diesem Ungeheuer Einhalt zu gebieten. Sie mußten ihm entkommen, und sie mußten ihm schnell entkommen.

Er meinte, das Mittel dazu zu besitzen. Es war der fünfte Tag ihrer Ankunft im Wildewald — der Tag, an dem Perk auf Genewen ein letztes Mal über das Tal fliegen würde, ehe er sich heimwärts wandte. Hastig griff Wil mit einer Hand zur Tasche seines Kittels, wo das silberne Pfeifchen steckte, das Perk ihm gegeben hatte, um Genewen herbeizurufen. Es war ihre einzige Verbindung zu dem jungen Himmelsreiter, und Wil hatte sorgfältig darüber gewacht.

Wenn sie den Weg durch die Senke und den Wildewald, durch das ganze untere Westland bis nach Arborlon zu Fuß bewältigen mußten, würden sie das nie schaffen. Der Raffer würde ihre Spur doch finden und sie töten. Naiv und töricht wäre es, etwas anderes zu hoffen. Wir müssen einen besseren Weg finden, nach Arborlon zurückzukehren, und Wil wußte einen: mit Genewen zu fliegen. Der Raffer würde sie dennoch verfolgen, genauso, wie er sie bisher überallhin verfolgt hatte, doch es würde ihm nicht gelingen, sie einzuholen. Sie würden seinen mörderischen Fängen entkommen.