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Wisp entschied sich ohne Zögern und zog Eretria mit sich in eine der Spalten hinein. Die anderen folgten. Er führte sie nun durch ein Labyrinth von Gängen und Windungen, die ständig weiter in die Tiefe führten. Die anderen hatten bald jede Orientierung verloren. Doch Wisp führte sie unbeirrt weiter.

Dann standen sie plötzlich vor einer Treppe, und Aussehen und Form der unterirdischen Gänge wandelte sich schlagartig. Das waren keine natürlich geformten Felswände und —mauern mehr. Die Treppe und der Gang waren aus rohbehauenen, massigen Steinquadern errichtet, ganz zweifellos von Menschenhand. Flecken von Feuchtigkeit glitzerten an den Mauern und am Dach des Ganges, und Rinnsale sickerten die Stufen hinab. Aus der Tiefe der Finsternis waren Geräusche zu hören. Ein Scharren winziger Füße, ein dünnes Quietschen des Ärgers. Im Schein der Lampen waren die huschenden Körper von Ratten zu erkennen.

Wisp führte sie die Treppe hinunter in die Finsternis. Hunderte von Stufen stiegen sie hinab, während die Treppe sich in endlosen Windungen immer tiefer schlängelte. Rund um sie herum, gerade noch außerhalb des Lichtscheins der rauchlosen Lampen, huschten die Ratten durch die Finsternis. Schrill und unangenehm drangen ihre Schreie durch die Stille. Ein durchdringender Geruch nach Moder und Feuchtigkeit und nach Verfall schwängerte die Luft. Und immer noch stiegen sie tiefer hinunter, und das Ende der Treppe war nicht abzusehen.

Endlich hatten sie die letzte Stufe hinter sich. Sie standen nun in einem großen Saal, dessen hohe gewölbte Decke von mächtigen Säulen getragen wurde. Halbzerfallene steinerne Bänke umgaben in sacht ansteigenden, immer weiter werdenden Kreisen ein Rondell in der Mitte des Raumes. Seltsame Zeichen waren in den Stein der Säulen und der Mauern eingeritzt, und unten im leeren Rund verrosteten eiserne Fahnenstangen. Früher einmal war diese steinerne Kammer ein Ratssaal oder ein Versammlungsraum gewesen, vielleicht auch ein Ort, wo seltsame Rituale vollzogen worden waren, dachte Wil. Früher einmal hatte sich ein anderes Volk hier versammelt. Flüchtig nur konnte er sich umsehen, denn schon führte Wisp sie durch die Bankreihen zu einer schweren Steintür, die am Ende des Saales wartete. Sie stand offen, und hinter ihr führte eine weitere Treppe in die Tiefe.

Wieder stiegen sie abwärts. Wil wurde allmählich unruhig. Sie hatten schon einen weiten Weg im Inneren des Berges zurückgelegt, und nur Wisp hatte überhaupt eine Ahnung, wo sie sich befanden. Wenn der Raffer sie hier einholte…

Die Treppe mündete in einen Gang. Wil glaubte das Geräusch plätschernden Wassers zu hören, als sprudele weiter vorn ein Bach durch den Fels. Eifrig eilte Wisp voran, während er Eretria mit sich zog und immer wieder ängstliche Blicke zurückwarf, als wolle er sich vergewissern, daß sie noch da war.

Dann hatten sie auch diesen Gang hinter sich und standen in einer gewaltigen Höhle, nicht von Menschenhand errichtet, sondern ein Werk der Natur. Ihre Wände waren von Löchern und Rissen durchsetzt, und von ihrem Dach stachen zahllose spitze Stalaktiten herab. In der Dunkelheit jenseits ihrer Lichter konnten sie das Rauschen von Wasser hören.

Wisp führte sie durch die Höhle und murmelte dabei unaufhörlich vor sich hin. An der hinteren Wand türmte sich ein Berg von Felsbrocken, vielleicht durch einen Erdrutsch aufgeworfen. Von den Felsen herab sprang zischend und schäumend ein schmaler Bach, dessen Wasser sich in einem Becken sammelte, um sich dann in einer Anzahl winziger Bächlein und Rinnsale zu verzweigen, die sich glucksend in die Finsternis schlängelten.

»Hier«, verkündete Wisp strahlend und wies auf den kleinen Wasserfall.

Wil ließ Amberle herunter und starrte den kleinen Burschen verständnislos an.

»Hier«, wiederholte Wisp. »Eine Tür aus Glas, das nicht bricht. Ein lustiges Spiel.«

»Wil, er meint den Wasserfall«, sagte Amberle plötzlich. »Schau doch mal genau hin — da, wo das Wasser zwischen diesen beiden Felsen zu dem Becken herabfällt.«

Wil schaute sich das an, sah jetzt, was Amberle schon vor ihm gesehen hatte. An dieser Stelle, wo das Wasser in das Becken abfiel, rieselte es in einem dünnen, glitzernden Vorhang zwischen zwei Felssäulen herab. Der Anblick erinnerte in der Tat an eine Tür aus Glas. Wil trat ein paar Schritte näher heran. Das Licht seiner Lampe spiegelte sich im Wasser.

»Aber das ist doch nicht Glas!« rief Eretria ungeduldig. »Das ist doch nur Wasser!«

»Aber würde sich der Ellcrys daran erinnern?« entgegnete Amberle rasch, immer noch zu Wil sprechend. »Er hat ein so langes Leben hinter sich. Vieles von dem, was er einst wußte, ist ihm im Lauf der Zeit entfallen. Vieles ist ihm unklar geworden. Vielleicht erinnert er sich an diesen Wasserfall nur deshalb, weil er eben aussieht wie eine Tür aus Glas, das nicht bricht.«

Eretria blickte auf Wisp hinunter.

»Das ist die Tür, Wisp? Bist du ganz sicher?«

Wisp nickte eifrig. »Lustiges Spiel, Hübsche. Spiel noch ein lustiges Spiel mit Wisp.«

»Wenn das die Tür ist, dann muß auf der anderen Seite eine Höhle sein…«

Wil ging noch näher an das Wasser heran.

»Wisp kann es zeigen!« Wisp lief ihm voraus und zog Eretria mit sich. »Schau, schau, Hübsche! Komm!«

Er zog Eretria mit sich, bis sie unmittelbar rechts von dem kleinen Wasserfall standen. Aus seinem Altmännergesicht warf er einen Blick zurück, dann ließ er ihre Hand los.

»Schau, Hübsche.«

Er trat in den Wasserfall hinein und verschwand. Eretria starrte ihm erstaunt nach. Beinahe unverzüglich war er wieder da. Sein dichtbehaarter Körper war klatschnaß, sein Gesicht strahlte.

»Schau!« Er faßte das Mädchen wieder an der Hand und zog es hinter sich her.

Rasch glitt die kleine Gruppe durch den Vorhang des Wasserfalls, und im Licht der rauchlosen Lampe sah Wil, daß sie sich nun in einer Felsnische befanden, aus der ein schmaler Gang hinausführte. Tropfnaß folgten sie Wisp, der sie bis zu dem Ende des Durchgangs führte, wo wieder eine Höhle wartete. Diese war viel kleiner und unerwartet trocken, frei von dem Geruch nach Moder und Feuchtigkeit, der die andere erfüllt hatte. In einer Folge breiter flacher Simse senkte sich ihr Boden abwärts.

Wil holte tief Atem. Wenn der Wasserfall die Tür aus unzerbrechlichem Glas war, von der der Ellcrys gesprochen hatte, dann war dies, hier die Felskammer, in der sie das Blutfeuer finden würden. Stumm schritt er bis in den Hintergrund der Höhle und wieder zurück. Keine anderen Tunnel, keine anderen Gänge führten aus dieser Höhle heraus. Die Felswände, der Boden und das Dach der Höhle schimmerten matt im Schein seiner Lampe, als er sie hochhielt und sich sorgfältig umsah.

Die Felskammer war leer.

An der Öffnung der Höhle, die in die Hochwarte hineinführte, glitt ein Schatten aus den Büschen des Plateaus und verschwand lautlos in der Finsternis.

Ein Sturm wilder Phantasien überfiel Wil Ohmsford, als er in der leeren Höhle stand und sich hilflos umblickte. Es gab kein Blutfeuer. Nach allem, was sie erduldet hatten, um Sichermal zu erreichen, gab es gar kein Blutfeuer. Es war verloren, vielleicht schon seit Jahrhunderten vom Antlitz der Erde verschwunden, untergegangen mit der alten Welt. Es war eine Erfindung, eine eitle Hoffnung des sterbenden Ellcrys, ein Zauber, der mit dem Sterben der Geisterwelt verschwunden war. Oder, wenn es ein Blutfeuer gab, dann befand es sich nicht hier. Dann lag es vielleicht irgendwo in den Tiefen des Wildewalds, aber nicht in diesen Höhlen, und sie würden es niemals finden. Es befand sich außerhalb ihrer Reichweite. Es war versteckt…

»Wil!«

Amberles Ausruf durchbrach die Stille. Er wandte sich um. Sie stand ein Stück abseits von ihm, tastete mit einer Hand vor sich her, als sei sie blind und versuche sich zurechtzufinden.

»Wil, es ist hier! Das Blutfeuer ist hier! Ich kann es fühlen!«