Allanon machte eine Pause.
» Auch ein König versteht nicht immer alles, Eventine Elessedil. Es gibt Dinge, die man akzeptieren muß.«
Ohne ein Wort starrte Eventine den Druiden an. Der Zorn in seinen Augen war erloschen, statt dessen spiegelte sein Blick Gekränktheit und Verwirrung.
»Einst stand ich ihr sehr nahe«, sagte er schließlich. »Nach dem Tod ihres Vaters — meines Sohnes Aine — wurde ich ihr wie ein Vater. Sie war damals noch ein Kind, knapp sieben Jahre alt. An den Abenden haben wir zusammen gespielt…« Er brach ab, unfähig weiterzusprechen, und holte tief Atem, um wieder ruhig zu werden. »Sie hatte etwas an sich, was ich seither nie wieder gefunden habe; eine Reinheit, eine Unschuld, eine Güte des Herzens. Ich bin ein alter Mann, der diese Worte über seine Enkelin spricht, aber ich spreche nicht wie ein Blinder vom Licht. Denn ich kannte sie.«
Allanon erwiderte nichts. Der König kehrte zu seinem Sessel zurück und ließ sich langsam darin nieder.
»Aus den Geschichtsbüchern geht hervor, daß seit der Zeit von Jerle Shannara keine Frau mehr erwählt wurde, dem Ellcrys zu dienen. Amberle war die erste—die erste seit mehr als fünfhundert Jahren. Es war eine Ehre, für die andere alles gegeben hätten.« Er schüttelte in ungläubiger Verwirrung den Kopf. »Doch Amberle machte sich nichts daraus. Sie ging einfach fort. Sie gab keine Erklärung — mir nicht, ihrer Mutter nicht, niemandem. Nicht ein einziges Wort. Sie ging einfach fort.«
Hilflos verstummte er. Allanon nahm wieder ihm gegenüber Platz. Die dunklen Augen blickten den König eindringlich an.
»Sie muß zurückgeholt werden. Sie ist die einzige Hoffnung, die das Elfenvolk noch hat.«
»Vater!« Andor sprach, ehe er Zeit hatte, es sich anders zu überlegen. Impulsiv kniete er neben dem alten Mann nieder. »Vater, an dem Abend vor seinem Tod hat Lauren noch einmal mit mir gesprochen. Er erzählte mir, daß der Ellcrys viele Male zu Amberle gesprochen hatte, nachdem er sie erwählt hatte. So etwas war noch nie vorgekommen. Vielleicht ist Amberle unsere größte Hoffnung.«
Der König blickte ihn verständnislos an, so als hätten die Worte, die er soeben geäußert hatte, keine Bedeutung. Dann legte er die Hände flach auf der blanken Platte des Lesetisches ineinander und nickte.
»Für mich ist es nur eine schwache Hoffnung, Andor. Es mag sein, daß unser Volk sie wieder aufnimmt, wenn auch nur deshalb, weil sie gebraucht wird. Aber ganz sicher bin ich nicht; was sie getan hat, ist in den Augen der Leute unverzeihlich. Es mag auch sein, daß der Ellcrys sie annimmt — sowohl als Erwählte als auch als Überbringerin des Samenkorns. Ich will nicht behaupten, daß ich auf all diese Fragen Antworten habe. Und meine eigenen Gefühle sind in dieser Angelegenheit nicht von Bedeutung.« Er wandte sich wieder an Allanon. »Amberle selbst wird gegen uns sein, Druide. Als sie dieses Land verließ, kehrte sie ihm für immer den Rücken. Sie glaubte fest daran, daß es so sein müsse; irgend etwas gab ihr diesen Glauben. Ihr kennt sie nicht, wie ich sie kenne. Sie wird nie zurückkehren.«
Allanons Züge blieben unverändert.
»Das wird sich erweisen. Wir müssen sie finden und befragen.«
»Aber ich kenne ihren Aufenthalt nicht.« In der Stimme des Königs schwang ein Unterton von Bitterkeit mit. »Ich bezweifle, daß irgend jemand es weiß.«
Der Druide schenkte bedächtig einen Becher Kräutertee ein und reichte ihn dem König.
»Ich weiß es.«
Sprachlos blickte Eventine ihn einen Augenblick lang an. Widerstreitende Gefühle spiegelten sich auf seinem Gesicht, und plötzlich standen Tränen in seinen Augen. Doch sie versiegten rasch.
»Ich hätte es mir denken können«, meinte er schließlich. Er stand auf und trat einige Schritte vom Tisch weg, so daß sein Gesicht in den Schatten des Raumes eintauchte. »Ihr habt die Freiheit, in dieser Angelegenheit zu handeln, wie Ihr es für richtig haltet, Allanon. Das wißt Ihr bereits.«
Auch Allanon erhob sich. Dann sagte er zu Andors Überraschung: »Ich benötige die Dienste Eures Sohnes noch auf eine kurze Zeit, bis ich aufbreche.«
Eventine wandte sich nicht um.
»Wie Ihr wünscht.«
»Denkt daran — niemand darf von meinem Erscheinen erfahren.«
Der König nickte. »Es wird niemand erfahren.«
Kurz drauf trat der Druide durch die von Vorhängen verhüllte Fenstertür und war ihren Blicken entschwunden. Andor blieb unschlüssig stehen und sah seinen Vater an, dann ging auch er.
Er wußte, daß die Gedanken des alten Mannes jetzt bei Amberle weilten.
In der Schwärze der Wälder von Westland nördlich von Carolan kauerte still, mit geschlossenen Augen, der Dagda Mor. Als er sie wieder öffnete, glitzerten sie vor Genugtuung. Der Wandler hatte ihm wohl gedient. Langsam erhob er sich, und der Stab der Macht flammte auf, als seine Hände sich um das polierte Holz schlossen.
»Druide«, zischte er leise. »Ich weiß von dir.«
Er winkte dem formlosen Schatten, der der Raffer war, und das Ungeheuer hob sich aus der Schwärze der Nacht. Der Dagda Mor richtete den Blick ostwärts. Er würde den Druiden in Paranor erwarten. Aber nicht allein. Er fühlte die große Macht des Druiden und hatte Furcht vor ihr. Der Raffer war vielleicht stark genug, solcher Macht zu widerstehen, doch für den Raffer hatte er bessere Verwendung. Nein, da war anderer Beistand vonnöten. Er würde eine Anzahl Brüder aus dem Kerker hinter der verfallenden Mauer der Verfemung befreien.
Genügend an Zahl, um den Druiden zu stellen. Ausreichend, um ihn zu töten.
6
Allanon erwartete Andor, als dieser aus dem erleuchteten Studierzimmer trat, und zusammen eilten sie durch den Park und dann durch das kleine Seitentor auf die Straße hinaus. Allanon bat Andor, ihn zu den Stallungen zu führen. Schweigend folgten beide einem dunklen Pfad, der sie durch ein Wäldchen zu den Koppeln führte und von dort zu den Stallungen. Mit einem sanften Wort der Beschwichtigung entließ Andor den alten Knecht, und Allanon und er traten hinein. Öllampen erhellten schwach eine Doppelreihe von Boxen, und langsam schritt Allanon an den Boxen entlang, und sein Blick wanderte prüfend von Pferd zu Pferd. Andor folgte ihm abwartend. Schließlich blieb der Druide stehen und wandte sich nach Andor um. »Den da«, sagte er und wies auf das Pferd. »Der ist der richtige für mich.« Andor blickte voll Unbehagen auf das Pferd, das Allanon gewählt hatte. Es war ein mächtiger, rabenschwarzer Hengst namens Artaq, groß und kräftig genug, einen Reiter von Allanons Größe zu tragen, ein Pferd, das große Strapazen ertragen konnte. Es war ein Jagdroß, mehr auf Ausdauer denn auf Schnelligkeit gezogen. Doch Andor wußte, daß er auf kurzen Strecken auch hoher Geschwindigkeit fähig war. Der Hengst hatte einen schmalen Kopf, klein im Verhältnis zu seinem gewaltigen, breitbrüstigen Körper. Die weit auseinanderliegenden Augen strahlten in einem verblüffenden Himmelblau. Intelligenz lag in diesen Augen ; Artaq war kein Pferd, das sich willig von jedem führen ließ.
Genau da lag das Problem. Artaq war eigenwillig und unberechenbar. Er machte sich einen Spaß daraus, mit seinem Reiter zu spielen, und diese Spiele endeten im allgemeinen damit, daß die Reiter abgeworfen wurden. Nicht wenige hatten bei diesen Abwürfen mehr oder minder schwere Verletzungen davongetragen. Wenn der Reiter auf Artaqs Rücken nicht kraftvoll und flink war, es zu verhindern, gelang es Artaq unweigerlich, ihn innerhalb weniger Sekunden nach dem Aufsitzen aus dem Sattel zu werfen. Es gab kaum jemanden, der sich noch auf dieses Risiko einließ. Selbst der König ritt den Hengst nur noch selten, obwohl er einst sein Lieblingspferd gewesen war.
»Es sind andere Pferde da…« meinte Andor etwas zaghaft, doch Allanon schüttelte ablehnend den Kopf.
»Dieser Hengst ist der richtige. Wie heißt er?«
»Artaq«, antwortete der Elfenprinz.
Allanon musterte das Pferd eine Weile peinlich genau, dann klappte er den Riegel hoch und trat in die Box. Andor kam näher, um zu sehen, wie die Dinge sich entwickelten. Der Druide blieb ruhig vor dem großenRappen stehen, hob dann lockend eine Hand. Zu Andors Überraschung kam Artaq zu ihm. Allanon streichelte mit langsamen und behutsamen Bewegungen den seidig glänzenden Hals und neigte den Kopf, um dem Pferd etwas ins Ohr zu flüstern. Dann legte er ihm ein Halfter an und führte es aus der Box, den Gang dorthin hinunter, wo Sättel und Zaumzeug aufgehängt waren. Kopfschüttelnd folgte Andor. Der Druide wählte Sattel und Zügel und zäumte das Pferd, nachdem er ihm das Halfter abgenommen hatte. Mit einem Wort der Aufmunterung schwang er sich dann auf den Rücken des Hengstes.