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Vor dem Eingang in den Tunnel hielt Wil schwankend an und kramte in den Fächern des Beutels, den er am Gürtel trug. Darin verwahrte er die Kräuter und Wurzeln, die er zur Ausübung seiner Heilkunst brauchte. Nach kurzem Suchen entnahm er dem Beutel eine dunkle rote Wurzel, die fest zusammengerollt war. Zögernd hielt er sie in der Hand. Wenn er sie verzehrte, würde ihr Saft den Schmerz stillen. Er würde durchhalten können, bis sie die Hänge des Berges erreichten. Doch die Wurzel hatte noch andere Wirkungen. Ihr Saft würde ihn schläfrig machen und schließlich betäuben. Und er würde seinen Geist immer stärker verwirren! Wenn die Wirkung zu rasch eintrat, noch bevor sie aus dem Labyrinth unterirdischer Gänge herausgefunden hatten …

Eretria beobachtete ihn stumm. Er sah sie an und blickte auf das zierliche Mädchen, das sie trug. Dann biß er in die Wurzel und begann zu kauen. Dieses Risiko mußte er auf sich nehmen.

Weiter hasteten sie durch die Dunkelheit. Als das Labyrinth sich vor ihnen öffnete, hob Wil die Hand mit den Elfensteinen und beschwor den Zauber, der in ihnen wohnte. Er wurde schnell lebendig diesmal, flutete in einem heißen Strom durch ihn hindurch, ergoß sich in einem Lichtschwall in die Dunkelheit. Wie ein Leuchtstrahl schlängelte sich das blaue Feuer vor ihnen durch die unterirdischen Gänge und führte sie Schritt um Schritt vorwärts.

Der Schmerz der Verletzungen, die Wil im Kampf mit dem Raffer davongetragen hatte, begann nachzulassen. Er hatte das Gefühl, wie ein mit Luft gefüllter Ballon durch die Finsternis zu schweben. Langsam breitete sich die Wirkung des Wurzelsafts in seinem ganzen Körper aus, raubte ihm die Kraft, so daß er nach einer Weile das Gefühl hatte, seine Glieder seien aus feuchtem Ton; und raubte ihm auch die Klarheit des Geistes, so daß er Mühe hatte, sich wenigstens an dem einen Gedanken festzuklammern — wir müssen weiter.

Und die ganze Zeit wühlte die elfische Zauberkraft sein Blut auf. Er spürte, wie er sich auf unerklärliche Weise veränderte. Er war nicht mehr derselbe, das wußte er. Nie wieder würde er der alte sein. Die Zauberkraft brannte in ihm und hinterließ eine unsichtbare Narbe auf seinem Körper und in seiner Seele. Hilflos ließ er es geschehen, während er sich fragte, welche Wirkung das auf sein Leben haben würde.

Es spielt keine Rolle, sagte er sich. Nichts spielte mehr eine Rolle außer Amberles Sicherheit.

Von funkelndem blauen Feuer geführt eilte die kleine Gruppe vorwärts, und die Tunnel und Gänge und Treppen versanken hinter ihnen in der Schwärze der unterirdischen Nacht.

Als sie endlich aus dem Schlund der Höhle an das Tageslicht emportauchten, waren sie völlig erschöpft. Eretria, die Amberle den ganzen Weg getragen hatte, war am Ende ihrer Kräfte. Wil, vom Saft der schmerzstillenden Wurzel halb betäubt, schwankte unstet zwischen Wachen und Schlafen, als wanderte er ziellos durch dichten Nebel. Selbst Hebel war am Ende seiner Kräfte.

Dicht beieinander standen sie auf dem Plateau hoch an den Hängen des Berges und blickten blinzelnd in das vergehende Tageslicht, das schon von langen Schatten verdunkelt wurde. Ihre Augen folgten den Lichtstrahlen westwärts zum Horizont, wo die Sonne in einem Glorienschein goldenen Feuers langsam hinter den Wald versank.

Alle Hoffnung verließ Wil.

»Die Sonne — Eretria!«

Sie kam zu ihm, und gemeinsam legten sie Amberle auf dem Boden nieder. Das Elfenmädchen schlief noch immer. Ihre schwachen Atemzüge waren das einzige Lebenszeichen, das sie während des langen Marsches durch die unterirdischen Gänge der Hochwarte gegeben hatte. Jetzt regte sie sich ein wenig, so als wolle sie erwachen, doch ihre Augen blieben geschlossen.

»Eretria — hier«, sagte Wil und griff mit unsicherer Bewegung in seinen Kittel. Die Lider seiner Augen waren schwer geworden, und die Worte kamen lallend aus seinem Mund. Seine Zunge fühlte sich dick und pelzig an. Mit Mühe hielt er sich aufrecht und zog das silberne Pfeifchen heraus. »Hier«, sagte er wieder und gab es Eretria. »Hier, pfeife daraufaber schnell.«

»Heiler, was soll ich —?« begann sie, doch da packte er schon zornig ihre Hand.

»Benutze es!« befahl er mit letzter Kraft und sank vor Schwäche in die Knie. Zu spät, dachte er. Zu spät. Der Tag ist um. Perk ist fort.

Er verlor schnell das Bewußtsein — nur noch einige wenige Minuten, dann würde er schlafen. Seine Hand umklammerte immer noch die Elfensteine, und er spürte ihre scharfen Kanten in seiner Handfläche. Noch ein paar Minuten. Was würde sie dann beschützen?

Er sah, wie Eretria das Pfeifchen an ihre Lippen drückte. Dann beugte sie sich zu ihm hinunter, und ihre dunklen Augen blickten ihn fragend an.

»Sie hat keinen Ton.«

Er nickte. »Pfeif — nochmal.«

Sie gehorchte.

»Jetzt paß auf…« Er deutete zum Himmel hinauf.

Eretria wandte sich ab und hob den Kopf.

Hebel hatte Drifter auf einem Lager aus grobem Gras niedergelegt, und der Hund leckte ihm die Hand. Wil seufzte tief und blickte auf Amberle hinunter. Wie bleich sie war! Als sei alles Leben aus ihr entwichen. Verzweiflung packte ihn. Er mußte etwas tun, um ihr zu helfen. Er konnte sie nicht einfach so im Stich lassen. Er brauchte Perk! Wenn sie nur ein bißchen schneller gelaufen wären auf dem Weg nach oben! Wenn ihn nur diese Verletzungen nicht behindert hätten. Nun war der Tag um!

Die Schatten der hereinbrechenden Nacht hüllten sie ein, und der Gipfel des Berges war vom grauen Licht des Abends verschleiert. Die Sonne war im Westen untergegangen. Nur noch eine schmale goldene Sichel schimmerte über den fernen Wäldern.

Perk komm, schrie Wil stumm. Hilf uns.

»Wil.«

Er fuhr herum. Amberle sah aus blutroten Augen zu ihm auf. Ihre Hand suchte die seine.

»Es ist alles gut — Amberle«, stieß er hervor. Seine Kehle war wie ausgetrocknet, und die Worte klangen heiser. »Wir — wir haben es geschafft.«

»Wil, hörst du mich«, flüsterte sie. Ihre Worte waren jetzt ganz klar, nicht mehr verschwommen, nicht mehr überhastet. Nur ihre Stimme war noch ein wenig schwach. Er wollte ihr antworten, doch sie drückte ihm einen Finger auf die Lippen und schüttelte den Kopf. »Nein, hör mir zu. Sprich jetzt nicht. Hör mir nur zu.«

Er nickte und neigte sich zu ihr hinunter, als sie dichter an ihn herandrängte.

»Ich habe mich getäuscht, Wil — ich hab’ dem Ellcrys Unrecht getan. Er wollte sich meiner nicht bedienen; er spielte nicht mit mir. Die Angst — sie war unabsichtlich; sie entstand durch mein Unvermögen zu verstehen, was vorging. Wil, der Ellcrys wollte mich sehen machen, wollte mich wissen lassen, warum ich erwählt worden war, warum ich etwas so Besonderes war. Denn siehst du, er wußte, daß ich diejenige sein würde. Er wußte es. Seine Zeit war um, und er sah —«

Sie brach ab und biß sich auf die Lippen, als ihre Gefühle sie zu überwältigen drohten. Tränen rannen über ihre Wangen.

»Amberle«, sagte er, doch sie schüttelte wieder den Kopf.

»Hör mir zu. Dort unten habe ich eine Wahl getroffen. Ich allein habe sie getroffen, und niemand außer mir trägt die Verantwortung. Verstehst du? Niemand. Ich traf die Entscheidung, weil ich mußte. Aus vielen Gründen — aus Gründen, die ich nicht…« Sie geriet ins Stocken und setzte von neuem an. »Für die Erwählten, Wil. Für Crispin und Dilph und die anderen Elfen-Jäger. Für die Soldaten im Drey-Wald. Für den armen kleinen Wisp. Alle sind sie tot, Wil, und ich kann nicht zulassen, daß ihr Opfer vergebens sein soll. Siehst du, du und ich — wir müssen — wir müssen vergessen, was wir…«

Sie konnte nicht weitersprechen und begann zu schluchzen.

»Wil, ich brauche dich. Ich brauche dich so sehr…«

Tiefe Angst durchflutete ihn. Er war im Begriff, sie zu verlieren. Er fühlte es. Vergeblich versuchte er, sich aus der Benommenheit zu befreien, die ihn gefangen hielt.