Andor hielt den Atem an. Gemächlichen Schrittes ließ Allanon den Rappen den Gang hinuntertrotten und den anderen wieder hinauf. Artaq gehorchte ihm willig und aufmerksam; mit diesem Reiter konnte man nicht spielen. Allanon ritt ihn zu Andor zurück und schwang sich aus dem Sattel.
»Während meiner Abwesenheit, Elfenprinz«, sagte er, die schwarzen Augen fest auf Andor gerichtet, »vertraue ich Euch die Sorge um Euren Vater an. Seht darauf, daß er keinen Schaden nimmt.« Er machte eine Pause. »Ich verlasse mich auf Euch.«
Andor nickte, erfreut, daß Allanon ihm solches Vertrauen entgegenbrachte. Der Druide blickte ihn noch einmal forschend an, dann wandte er sich ab. Gefolgt von dem Elfenprinzen, führte er Artaq zum rückwärtigen Teil des Stalles und stieß die breite zweiflügelige Tür auf.
»Lebt wohl, Andor Elessedil«, grüßte er Abschied nehmend, bestieg wieder das Pferd und ritt in schnellem Trab davon.
Andor blickte ihm nach, bis ihn die Dunkelheit verschluckt hatte.
Zwei Nächte und zwei Tage ritt Allanon gen Osten, Paranor entgegen. Sein Weg führte ihn durch die tiefen Wälder von Westland zur Pforte des historischen Rhenn-Tales und von dort in das weite, leere Ödland der Streleheim-Ebene. Er ritt in zügigem Tempo, legte nur kurze Pausen ein, um Artaq zu füttern und zu tränken und achtete darauf, sich wo immer möglich auf geschütztem Gebiet zu halten und das offene Land zu meiden. Um Handelsstraßen und vielbereiste Marschwege schlug er einen großen Bogen. Bisher wußten nur der Elfenkönig und sein Sohn, daß er in die vier Länder zurückgekehrt war. Keiner außer ihnen hatte Kenntnis von den alten Geschichtsbüchern der Druiden in Paranor; keiner außer ihnen ahnte, daß es eine siebente Erwählte gab. Wenn die Mächte des Bösen, welche die Mauer der Verfemung durchbrochen hatten, von alledem etwas erfahren sollten, würde das Gelingen seiner Mission gefährdet sein. Absolute Verschwiegenheit und Heimlichkeit waren seine verläßlichsten Verbündeten, und so sollte es bleiben.
Am Abend des zweiten Tages erreichte er Paranor. Der Druide war sicher, daß ihm niemand gefolgt war.
Noch ein gutes Stück von der alten Festung entfernt, ließ er Artaq in einem kleinen Tannenwäldchen zurück, wo es saftiges Gras und Wasser genug gab, und ging den Rest des Weges zu Fuß. Nichts war mehr so, wie es sich zur Zeit des Dämonen-Lords dargeboten hatte. Die Wolfsrudel, die in den umgebenden Wäldern umhergestrichen waren, gab es nicht mehr. Die giftige Dornenhecke, welche die Burg wie eine unüberwindbare Mauer eingeschlossen hatte, war verschwunden. Still und friedlich lag das Land in der Dämmerung des frühen Abends, und die Wälder waren erfüllt von den anheimelnden Lauten der Tiere, die sich auf die hereinbrechende Nacht vorbereiteten.
Minuten später stand er am Fuß der Druiden-Burg. Die alte Festung thronte auf der Höhe eines massigen Felsblocks, so hoch über den Wipfeln der umliegenden Wälder, als sei sie von Riesenhand aus den Tiefen der Erde emporgeschleudert worden. Einen atemberaubenden Anblick bot sie, einem Märchenschloß kindlicher Phantasie gleich mit der vielgezackten Silhouette der spitzen Türme und zinnenbewehrten Mauern, den Erkern und Brustwehren, deren verwittertes weißes Gestein sich scharf von dem tiefen Blau des Nachthimmels abhob.
Allanon blieb stehen. Die Geschichte Paranors war die Geschichte der Druiden, die Geschichte seiner Vorfahren. Sie begann vor tausend Jahren, nachdem die Großen Kriege die Rasse der Menschen ausgerottet und das Gesicht der alten Welt für immer verändert hatten. Sie begann nach Jahren primitiven, unzivilisierten Lebens, nach einer Zeit, währendder die Überlebenden der großen Katastrophe einen verzweifelten Kampf führten, sich in einer tödlichen neuen Welt zurechtzufinden, in der der Mensch nicht länger die beherrschende Gattung war. Sie begann, nachdem die eine Rasse der Menschen wiedergeboren wurde in den neuen Rassen von Menschen, Zwergen, Gnomen und Trollen — nachdem die Elfen wieder auftauchten. Sie begann in Paranor, wo der erste Druidenrat in dem verzweifelten Bemühen zusammentrat, die neue Welt vor der totalen Anarchie zu bewahren. Galaphile rief vor Urzeiten den Rat zusammen — Galaphile, der größte der Druiden. Hier nun wurden die geschichtlichen Überlieferungen der alten Welt in den Büchern der Druiden festgehalten, um allen kommenden Menschengenerationen erhalten zu bleiben. Hier erforschte man die Geheimnisse der alten Wissenschaften, mühte sich, aus Fragmenten ein Ganzes zu formen, nahm die Geheimnisse einiger weniger in den neuen Wissensschatz auf. Hunderte von Jahren lebten und arbeiteten die Druiden in Paranor, Weise einer neuen Welt, die bemüht waren, Zerstörtes wieder aufzubauen.
Doch ihre Anstrengungen schlugen fehl. Einer von ihnen wurde das Opfer von Ehrgeiz und unbedachter Ungeduld, ließ sich dazu verführen, mit magischen Kräften zu spielen, die so gewaltig und so böse waren, daß sie ihn am Ende verzehrten. Sein Name war Brona. Im ersten Krieg der Rassen führte er ein Heer von Menschen gegen die anderen Rassen, um auf diesem Weg die Herrschaft über die vier Länder zu gewinnen. Die Druiden schlugen diesen Aufstand nieder und jagten ihn fort. Sie hielten ihn für tot. Doch fünfhundert Jahre später kehrte er zurück — nicht mehr Brona, sondern der Dämonen-Lord. Er schloß die arglosen Druiden in ihre Burg ein und metzelte sie nieder — alle bis auf einen. Dieser eine war Brimen, Allanons Vater. Brimen schmiedete ein Zauberschwert und gab es dem Elfenkönig Jerle Shannara — einen Talisman, gegen den der Dämonen-Lord nichts auszurichten vermochte. Dieses Zauberschwert verhalf den Elfen und ihren Verbündeten in dem zweiten Krieg der Rassen zum Sieg; wieder wurde der Dämonen-Lord aus der Welt der Menschen vertrieben.
Als Brimen starb, wurde Allanon der letzte der Druiden. Er verschloß die Burg für immer. Paranor wurde Geschichte, ein Denkmal einer anderen Zeit, einer Zeit großer Menschen und großer Taten.
Der Druide schüttelte den Kopf. All dies war Vergangenheit; sein Denken durfte jetzt nur der Gegenwart gelten.
Langsam ging er um den steinernen Sockel der Burg herum und musterte aufmerksam die tiefen Spalten und zackigen Felsvorsprünge. Schließlich blieb er stehen, und seine Hände streckten sich dem Fels entgegen, ihn zu berühren. Ein Steinquader schwang langsam nach innen, und dahinter öffnete sich ein geheimer Gang. Der Druide glitt rasch durch die schmale Lücke, und der Stein verschloß sich wieder hinter ihm.
Drinnen herrschte schwarze Finsternis. Allanons Hände glitten suchend an der Mauer entlang, bis sie auf ein Bündel Fackeln stießen, die in eisernen, im Fels verankerten Haltern steckten. Nachdem er eine herausgenommen hatte, arbeitete er so lange mit dem Feuerstein, den er in einem Beutel an seinem Gürtel trug, bis ein Funke das Pech am Kopf der Fackel entzündete. Mit der brennenden Fackel in der Hand wartete er noch eine Weile, damit seine Augen sich auf den schwachen Fackelschein einstellen konnten. Ein langer Gang erstreckte sich vor ihm, und in der Ferne verloren sich in den Felsboden gehauene Stufen in der Finsternis. Er folgte dem Gang und stieg aufwärts. Ein Geruch nach Staub und Moder wehte ihm ins Gesicht. Es war kalt in den finsteren Steingewölben, und der Druide zog seinen schweren Umhang enger um sich. Hunderte von Stufen schritten seine Füße hinunter, und immer weiter wand sich der Gang durch die Finsternis.
Er endete schließlich vor einer schweren Holztür. Allanon blieb stehen und neigte sich nahe zur Tür, um die schweren eisernen Beschläge zu prüfen. Dann berührte er mit den Fingern mehrere glänzende Nagelköpfe, und die Flügel der Tür schwangen auf.