Eilig blätterte er das Buch durch, das er herausgenommen hatte, stellte es dann wieder zurück und wählte ein anderes. Nachdem er diesen zweiten Band durchgesehen hatte, setzte er sich an den langen Tisch und begann zu lesen.
Beinahe drei Stunden lang saß er völlig reglos, das Gesicht über die gestochen scharfen Schriftzüge geneigt. Nur zum Umblättern hob er die Hand.
Nach einer Stunde angestrengter Studien entdeckte er den Ort, wo Sichermal zu finden war. Doch er las weiter. Er wollte noch mehr wissen.
Endlich löste er seinen Blick von den Seiten des Buches und lehnte sich erschöpft zurück. Eine Zeitlang saß er ruhig auf dem hochlehnigen Stuhl und blickte unbewegt auf die Reihen von Büchern, die das vollständige geschichtliche Wissen der Druiden enthielten. Er hatte gefunden, wonach er geforscht hatte, und dennoch wünschte er, er hätte es nicht gefunden.
Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Gespräch, das er vor zwei Tagen Eventine Elessedil geführt hatte. Er hatte dem Elfenkönig berichtet, daß er zunächst in die Gärten des Lebens gegangen war und dort der Ellcrys zu ihm gesprochen hatte. Aber er hatte dem König nicht alles kundgetan, was der Baum ihm offenbart hatte. Er hatte es einerseits deshalb nicht getan, weil viel von dem, was der Ellcrys mitgeteilt hatte, verwirrend und unklar gewesen war, Erinnerungen an eine Zeit und ein Leben, die sich im Lauf der Zeit zur Unkenntlichkeit verändert hatten. Ein Bild jedoch hatte er geschaut, das er nur allzugut verstanden hatte. Und doch war das, was er da gesehen hatte, so unglaublich gewesen, daß er nicht bereit gewesen war, es zu akzeptieren, ohne zuvor die Geschichtsbücher der Druiden einzusehen. Dies hatte er nun getan. Und jetzt wußte er, daß es der Wahrheit entsprach und geheimgehalten werden mußte — besonders vor Eventine. Ein Gefühl unendlich tiefer Verzweiflung übermannte ihn. Es war so, wie es vor fünfzig Jahren mit dem jungen Shea Ohmsford, gewesen war; die Wahrheit mußte sich in einem unerbittlichen Ablauf von Ereignissen von selbst zeigen. Ihm stand es nicht zu, über Zeit und Ort ihrer Offenbarung zu bestimmen. Ihm stand es nicht zu, in die natürliche Ordnung der Dinge einzugreifen.
Und doch stellte er eine entscheidende Frage. Allem mit den Geistern seiner Vorfahren, der letzte seiner Art, stellte er diese Entscheidung in Frage. Damals hatte er sich entschieden, Shea Ohmsford die Wahrheit zu verschweigen, und nicht nur dem jungen Shea, ihnen allen, die zu der kleinen Gesellschaft von Abenteurern aus Culhaven gehörten, allen denen, die auf der Suche nach dem Schwert von Shannara ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, weil er sie davon überzeugt hatte, daß sie das tun mußten. Am Ende war er zu der Überzeugung gekommen, daß es falsch gewesen war, die Wahrheit zu verbergen. War es auch dieses Mal falsch? Sollte er nicht wenigstens diesmal von Anfang an aufrichtig sein?
Noch immer in Gedanken verloren, schlug er das Buch zu, das vor ihm lag, stand auf und trug den schweren Band an seinen Platz zurück. Er vollführte mit einer Hand eine rasche kreisförmige Bewegung vor den Bücherreihen, und die Granitmauer stand wieder da. Geistesabwesend starrte er auf den grauen Stein, dann wandte er sich ab. Er nahm die Fackel, die er mitgebracht hatte, löschte die übrigen Lichter im Gewölbe und betätigte den Mechanismus der Geheimtür.
Als er das Studierzimmer wieder erreicht hatte, drückte er den offenen Teil der Bücherwand wieder zu, so daß alles sich so zeigte, wie es zuvor gewesen war. Beinahe traurig sah er sich in dem kleinen Raum um. Aus der Burg der Druiden war eine Gruft geworden. Der Geruch des Todes haftete an ihr. Früher einmal war es ein Ort wissenschaftlicher Gelehrsamkeit und visionärer Phantasie gewesen. Aber die Zeiten waren unwiederbringlich vorüber. In diesen Mauern hatte das Leben keinen Platz mehr.
Unwillig runzelte er die Stirn. Seine Stimmung hatte sich beträchtlich verdüstert, seit er in den Seiten der Druidengeschichte gelesen hatte. Unstete Eile trieb ihn an, von Paranor fortzukommen. Dies war ein Ort des Unglücks — er allein mußte dieses Unglück auch anderen bringen.
Schnellen Schrittes verließ er das Studierzimmer, öffnete die Tür und trat hinaus in den Hauptkorridor.
Keine zehn Schritte entfernt wartete die bucklige Gestalt des Dagda Mor.
Allanon erstarrte. Der Dämon erwartete ihn allein, den harten Blick auf den Druiden gerichtet, den Stab der Macht locker im Arm liegend. Das zischende Geräusch seines Atems durchschnitt scharf die tiefe Stille, doch er sprach kein Wort. Er stand nur da und musterte aufmerksam den Mann, den zu vernichten er gekommen war.
Der Druide trat von der Tür weg, bewegte sich vorsichtig zur Mitte des Ganges, während seine Augen die dunstige Schwärze rundum zu durchdringen suchten. Fast augenblicklich sah er noch andere Dämonen — unbestimmte, geisterhafte Gestalten, die wie Tiere auf allen vieren aus dem Schatten krochen, während ihre schmalen Augen grünes Feuer sprühten. Unzählig schienen sie, und sie umringten ihn von allen Seiten. Unaufhaltsam drängten sie näher, umkreisten ihn, leicht von einer Seite zur anderen schwankend, wie Wölfe, die ein Beutetier in die Enge getrieben haben. Ein leises kreischendes Schreien ging von ihren gesichtslosen Köpfen aus, ein gräßliches katzenartiges Gekreische, das Vorfreude auszudrücken schien auf das, was sie erwarteten. Einige der dämonischen Geschöpfe glitten in den bleich flackernden Schein seiner Fackel. Es waren abscheuliche Geschöpfe mit schlangenhaft sich windenden Körpern, die von dichtem grauen Haar überwuchert waren. Ihre Gliedmaßen hatten etwas Menschliches, doch die vielen Finger waren zu scharfen Klauen gekrümmt. Als sie die Gesichter zu dem Druiden aufhoben, überlief es diesen eiskalt. Es waren die Gesichter von Frauen, deren Züge verzerrt waren von blutgieriger Grausamkeit. Die Münder erinnerten an die Mäuler riesiger Katzen.
Er wußte jetzt, wer sie waren, obwohl sie seit Tausenden von Jahren nicht mehr auf Erden gewandelt waren. Seit den ersten Anfängen der Menschheit waren sie hinter der Mauer der Verfemung eingekerkert gewesen, doch in den Geschichtsbüchern der alten Welt waren die Berichte über sie nachzulesen. Es waren Geschöpfe, die sich von Menschenfleisch nährten. Aus Raserei waren sie geboren, und zu Raserei trieb sie ihre Blutgier.
Es waren Furien.
Allanon sah bestürzt, wie sie ihn umkreisten, am Rande des Lichtrings lauerten, den seine Fackel warf, mit gierigem Vergnügen seines Todes harrend. Denn sein Tod schien unausweichlich. Allzu viele Furien lauerten da, als daß der Druide es mit ihnen hätte aufnehmen können. Seine Kraft reichte nicht aus, um sie alle abzuwehren. Sie würden vereint angreifen, sich von allen Seiten auf ihn stürzen und seinen Körper zerfetzen.
Er warf einen raschen Blick auf den Dagda Mor. Der Dämon stand noch immer außerhalb des Kreises seiner blutrünstigen Dienerinnen. Sein düsterer Blick ruhte unverwandt auf dem Druiden. Es war offensichtlich, daß er keine Notwendigkeit sah, seine eigenen Kräfte einzusetzen, die der Furien würden die Tat vollenden. Der Druide steckte in der Falle und war hoffnungslos unterlegen. Gewiß würde er sich zur Wehr setzen, doch sein Ende schien besiegelt.
Das Kreischen der Furien schwoll zu irrer Raserei an, widerhallte schrill und durchdringend in den steinernen Gängen und Sälen der Burg. Klauenscharfe Finger scharrten auf dem Marmorboden, und ganz Paranor schien in Entsetzen zu versteinern. Doch da verschwand Allanon plötzlich — er war einfach fort.
Es geschah so unversehens, daß die verwirrten Furien in ihrer Bewegung innehielten und ungläubig auf die Stelle stierten, wo der Druide soeben noch gestanden hatte. Ihr schrilles Gekreische erstarb. Die Fackel hing noch in der dunstigen Finsternis, einem Leuchtfeuer gleich, das die Furien in seinen Bann schlug. Dann fiel sie in einem Funkenregen auf den Boden des Ganges, und die Flamme erlosch, und der Gang war plötzlich in schwarze Finsternis getaucht.