Allanon schüttelte den Kopf.
»Die Kraft des Schwertes wirkt nur gegen Täuschung und Trug. Das Böse, dem wir uns gegenübersehen, ist sehr real, sehr greifbar. Das Schwert vermag nichts dagegen auszurichten.«
Flick fuhr hoch. »Was dann?«
Die Augen des Druiden waren dunkel und erfüllt von einem verborgenen Wissen. Wil Ohmsford überflutete plötzlich Beklommenheit.
»Die Elfensteine.«
Flick war entsetzt. »Die Elfensteine! Aber die Elfensteine hat doch Shea in Verwahrung!«
Wil legte dem alten Mann hastig die Hand auf den Arm.
»Nein, Onkel Flick, die Elfensteine habe ich.« Er griff unter seinen Kittel und brachte einen kleinen Lederbeutel zum Vorschein. »Großvater hat sie mir gegeben, als ich aus Shady Vale fortging, um in Storlock zu studieren. Er sagte damals, er brauche sie nicht länger und fände, sie sollten mir gehören.« Seine Stimme zitterte. »Es ist seltsam; ich nahm sie nur, um ihm eine Freude zu machen — nicht weil ich glaubte, daß ich sie jemals brauchen würde. Ich habe nie auch nur versucht, mich ihrer Kraft zu bedienen.«
»Das wäre auch völlig zwecklos, Wil.« Erregt wandte sich Flick wieder an Allanon. »Er weiß es ganz genau. Keiner außer Shea kann die Kräfte der Elfensteine zum Leben und Wirken erwecken.
Allanons Miene blieb unverändert.
»Das entspricht nicht ganz der Wahrheit, Flick. Nur der kann die Kräfte der Elfensteine einsetzen, dem die Steine freiwillig geschenkt wurden. Ich gab sie Shea zum Gebrauch, als ich ihm riet, das Tal von Culhaven zu fliehen. Sie blieben sein Eigentum, bis er sie Wil zum Geschenk machte. Jetzt gehören sie Wil. Er hat, wie einst Shea, die Macht, sich ihrer Kräfte zu bedienen.«
Flicks Gesicht drückte Verzweiflung aus.
»Du kannst sie zurückgeben«, drängte er Wil, als er die Verwirrung in den Augen des jungen Mannes sah. »Oder du kannst sie jemandem schenken — irgend jemandem. Du brauchst sie nicht zu behalten. Du brauchst dich auf diesen Wahnsinn nicht einzulassen!«
Allanon schüttelte den Kopf.
»Flick, so einfach ist das nicht.«
»Aber was wird aus meinen Plänen, ein Heilkundiger zu werden?« rief Wil plötzlich. »Soll die Zeit und die Arbeit, die ich darauf verwendet habe, einfach verloren sein? Mein Leben lang wollte ich immer nur ein Heilkundiger werden, und jetzt endlich bin ich auf dem besten Weg dazu. Soll ich das alles aufgeben?«
»Wie kannst du ein Heilkundiger werden, wenn du dich weigerst, in dieser Lebensbedrohung Beistand zu leisten?« Die Stimme des Druiden war plötzlich hart. »Ein Heilkundiger muß helfen, wo er kann und wie er kann. Er kann nicht wählerisch sein. Wenn du dich jetzt weigerst zu helfen, und all das, was ich vorausgesehen habe, Wirklichkeit wird, wie willst du dann in der Zukunft mit dem Wissen leben, daß du nicht einmal versucht hast, es zu verhindern?«
Wils Gesicht lief rot an. »Aber wann kann ich dann endlich zurückkehren?«
»Das weiß ich nicht. Es kann lange dauern.«
»Und wenn ich nun mit Euch gehe, könnt Ihr mir dann mit Sicherheit sagen, daß die Kraft der Elfensteine ausreichen wird, dieses Mädchen zu beschützen?«
Allanons Gesicht verschloß sich.
»Nein, das kann ich nicht. Die Kraft der Elfensteine wird durch die Kräfte desjenigen gespeist, der sie in seinem Besitz hat.«
»Ihr könnt mir also keine Versicherungen geben?« Wils Stimme war zu einem Flüstern abgesunken.
»Nein.« Der Blick des Druiden ruhte unverwandt auf ihm. »Dennoch, du mußt mitkommen.«
Ungläubig und verzweifelt sank Wil in den Sessel zurück. »Mir scheint, ich habe da gar keine Wahl.«
»Natürlich hast du eine Wahl!« fuhr Flick ihn ärgerlich an. »Willst du denn alles hier nur aus dem einen Grund aufgeben, daß Allanon sagt, du müßtest ihm folgen? Willst du aus diesem Grund allein ihn begleiten?« Wil hob den Blick. »Habt ihr das nicht auch getan, Onkel Flick — Großvater und du —, als ihr euch auf die Suche nach dem Schwert von Shannara begabt?«
Flick zögerte, unsicher geworden. Dann beugte er sich zu dem jungen Mann hinüber und umschloß fest seine Hände.
»Wil, du läßt dir in dieser Sache nicht genug Zeit der Überlegung. Ich habe dich vor Allanon gewarnt. Jetzt hör mir einmal genau zu. Ich sehe mehr in dieser Geschichte als du. Hinter den Worten des Druiden verbirgt sich etwas. Ich fühle es.« Seine Stimme wurde eindringlicher, und die Furchen in seinem bärtigen Gesicht vertieften sich. »Ich habe Angst um dich. Nur deshalb spreche ich so mit dir, wie ich es jetzt tue. Du bist mir wie ein eigener Sohn; ich möchte dich nicht verlieren.«
»Ich weiß«, flüsterte Wil. »Ich weiß.«
Flick richtete sich wieder auf. »Dann geh nicht. Soll Allanon sich einen anderen suchen.«
Der Druide schüttelte den Kopf.
»Das kann ich nicht, Flick. Einen anderen gibt es nicht. Nur Wil ist dazu befähigt.« Seine Augen suchten die des jungen Talbewohners. »Du mußt mich begleiten.«
»Laßt mich statt dessen gehen«, rief Flick, Verzweiflung in der Stimme. »Wil kann mir die Elfensteine geben, und ich kann das Elfenmädchen beschützen. Allanon, schon früher sind wir miteinander auf Abenteuer gegangen …«
Doch der Druide schüttelte wiederum ablehnend das Haupt.
»Flick, du kannst mich nicht begleiten«, sagte er freundlich und behutsam. »Dein Herz ist größer als deine Kraft, Talbewohner. Die Reise, die bevorsteht, ist lang und beschwerlich. Nur ein junger Mann kann die Strapazen ertragen.« Er schwieg eine Weile. »Unsere Zeit der gemeinsamen Reisen ist ein für allemal vorüber, Flick.«
Lange lastete tiefes Schweigen über der Runde. Dann wandte sich der Druide wieder Wil Ohmsford zu. Der junge Mann sah seinen Onkel an. Einen Moment lang blickten die beiden einander wortlos in die Augen. Unsicherheit flackerte in den grauen Augen Flicks, Wils Blick aber war jetzt ruhig und fest. Flick sah, daß er seine Entscheidung getroffen hatte. Beinahe unmerklich nickte er.
»Du mußt das tun, was du für richtig hältst«, murmelte er widerstrebend.
Wil richtete seinen Blick auf Allanon.
»Ich werde Euch begleiten.«
9
Am folgenden Morgen suchte Allanon in aller Frühe Wil Ohmsford auf und erklärte ihm, daß sie Storlock unverzüglich verlassen müßten. Düster und mit grimmig entschlossener Miene erschien der Druide in der Tür des Häuschens, in dem Wil lebte. Flüchtig erwog Wil, einem so überstürzten Aufbruch zu widersprechen, doch ein Unterton in der Stimme, ein Zug im Gesicht Allanons machten ihm klar, daß es besser wäre, es zu unterlassen. Am vergangenen Abend, als sie auseinandergegangen waren, hatte das Ansinnen des Druiden nichts Drängendes gehabt; jetzt war das anders. Was immer auch Allanon veranlaßt hatte, diese rasche Entscheidung zu treffen, es mußte ein zwingender Grund vorliegen. Wortlos packte der Talbewohner seine wenigen Habseligkeiten und verriegelte die Tür des Häuschens, dann folgte er dem Druiden. Es regnete wieder. Aus Nordwesten wälzte sich ein neues Gewitter heran, und der Morgenhimmel war schwer und bleiern. Fest in seinen schwarzen Umhang gehüllt, den durch die Kapuze geschützten Kopf leicht gesenkt und gegen den stetig schärfer werdenden Wind, führte Allanon den jungen Talbewohner die schlammige Straße hinauf. Eine Handvoll weißgekleideter Stors erwartete sie auf der Treppe vor dem Krankenhaus, um Wil einen kleinen Nothilfekasten und Proviant für die Reise mitzugeben. Artaq war schon gesattelt und warf ungeduldig den Kopf hin und her. Ohne Verzögerung stieg Allanon auf. Die vorsichtige Behutsamkeit, mit der er sich dabei bewegte, ließ darauf schließen, daß seine Wunden noch nicht ganz ausgeheilt waren und Schmerzen bereiteten.
Wil bekam einen drahtigen grauen Wallach mit Namen Spitter und hatte gerade einen Fuß in den Steigbügel gestellt, als Flick keuchend angelaufen kam. Sein Kopf war hochrot, sein bärtiges Gesicht naß von Schweiß. Hastig zog er den jungen Mann auf die überdachte Veranda des Krankenhauses hinauf.
»Ich hab’s eben erst erfahren«, erklärte er schwer atmend, während er sich den Regen aus den Augen wischte. »Es wundert mich, daß man es überhaupt für nötig gehalten hat, mir Bescheid zu sagen.« Er warf einen zornigen Blick zu Allanon hinüber. »Ist es wirklich erforderlich, daß ihr so schnell aufbrecht?«