Wil wandte Artaq ohne Verzug nach Norden und schlug ihm die Fersen in die Seiten. Schnaubend sprang der große Rappe vorwärts. Diesmal ließ Wil ihm nicht freien Lauf, sondern hielt ihn sorgfältig unter Kontrolle. Die Jagd würde vielleicht noch lange dauern, und auch die Kräfte des mächtigen Rappen hatten ihre Grenzen. Artaq widersetzte sich nicht, sondern folgte gehorsam seiner Führung. Wil beugte sich wieder nach vorn. Er spürte, wie Amberles Hände seine Körpermitte fester umspannten, während sie das Gesicht wieder an seinen Rücken drückte.
Eine Meile später holte Spitter sie ein. Der Körper des keuchenden Pferdes war schweißnaß, die Nüstern waren weit gebläht. Schon zeigte es Müdigkeit. Wil blickte voll ängstlicher Sorge zu Allanon hinüber, aber der Druide erwiderte den Blick nicht; seine dunklen Augen erforschten das Land, das sich vor ihnen auftat, während er mit flüchtigen Handbewegungen sein Pferd antrieb.
Die Jagd über die grasbewachsenen Ebenen der Landschaft am Silberfluß ging weiter und verlor nichts an grimmiger Entschlossenheit. Das rasende Geheul der Dämonen-Wölfe erstarb schnell; statt dessen hörten sie jetzt keuchenden, röchelnden Atem und wütendes Knurren ohnmächtigen Zorns. Sie galoppierten durch Talmulden, die sich zwischen sanften Hügeln öffneten, und über weite, öde Anhöhen, an Obsthainen vorüber und an einsam stehenden Eichen und Weiden — ohne Pause flogen sie durch die schweigende Finsternis des Flachlandes. Die Zeit hatte keine Bedeutung mehr. Nahezu ein Dutzend Meilen hatten sie schon hinter sich gebracht. Doch der Abstand zwischen ihnen und den Verfolgern blieb unverändert.
Endlich kam der Silberfluß in Sicht, ein breites Band mondfunkelnden Wassers, das zwischen den niedrigen Hügeln am Flußufer in der Dunkelheit aufblitzte. Wil sah den Fluß zuerst und stieß einen lauten Ruf aus. Beim Klang seiner Stimme sprang Artaq augenblicklich vorwärts und setzte sich wieder vor Spitter. Verspätet suchte Wil, ihn zurückzuhalten, doch der Rappe ließ sich diesmal nicht zügeln. Er lief noch immer leichtfüßig und mühelos und ließ den rasch ermattenden Spitter schnell zurück.
Die Lücke zwischen Artaq und jenen, die hinter ihm kamen, wurde größer. Wil mühte sich immer noch, den Rappen zu zügeln, als er die kauernden, dunklen Gestalten gewahrte, die unversehens aus der Nacht hervorbrachen — sich windende, schlängelnde Gestalten, die mit borstigem grauen Haar bedeckt waren. Dämonen! Wil spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Es war eine Falle. Sie hatten ihn hier erwartet für den Fall, daß es ihm und Amberle gelingen sollte, den Dämonen-Wölfen bei Havenstead zu entkommen. Jetzt warteten sie in breiter Front an den Ufern des Silberflusses und rückten enger zusammen, als die Reiter sich näherten.
Artaq sah sie ebenfalls und schwenkte scharf nach links, um auf eine kleine Anhöhe zuzuhalten. Hundert Schritte zurück tat Spitter es ihm nach. Noch weiter zurück, die Distanz zu dem rasch ermüdenden Pferd jedoch verringernd, schossen die Dämonen-Wölfe über die Ebene, und ihr Heulen hallte jetzt wieder schauerlich durch die Nacht. Artaq jagte in gestrecktem Galopp die Anhöhe hinauf und flog schon wieder abwärts, zum Silberfluß hin. Eilig wollten die Dämonen vor ihm sich ihm in den Weg stellen. Wil konnte sie jetzt deutlich sehen, katzenähnliche Ungeheuer mit den Gesichtern von Frauen, die gräßlich verzerrt waren. Mit scheußlichem Gekreische stürzten sie dem Rappen entgegen, und ihre langen, reißenden Zähne blitzten im Mondlicht.
In letzter Sekunde wirbelte Artaq herum und raste wieder zur Anhöhe. Die Ungeheuer blieben wütend kreischend zurück. Im selben Moment erklomm Spitter den Hügel, stolperte vor Müdigkeit und ging in die Knie. Allanon wurde mit flatternden Gewändern zu Boden geschleudert, überschlug sich mehrmals und sprang schließlich wieder auf die Beine. Von allen Seiten jagten die Dämonen-Wölfe heran, aber in einem weiten lodernden Bogen schossen die blauen Flammen aus seinen Fingern und trieben die Unwesen auseinander wie der Herbstwind welke Blätter.
Artaq schwenkte wieder nach links. Wil und Amberle klammerten sich verzweifelt an ihn, um nicht abgeworfen zu werden. Laut wiehernd vor Haß auf diese Katzenwesen, die ihn aufhalten wollten, stürmte der Rappe erneut gegen die Widersacher an, parallel zum Flußufer. So schnell flog er dahin, daß er mitten unter ihnen war, noch ehe sie gewahrten, was er beabsichtigte. Mehrere der Ungeheuer wollten ihn packen, rissen mit klauenbewehrten Gliedern an ihm, doch im selben Augenblick war er an ihnen vorüber, entzog sich mit einem gewaltigen Sprung ihren gierigen Krallen und raste durch die Nacht davon. Hinter ihm übergoß blauer Flammenregen die nächsten Verfolger und verbrannte sie zu Asche. Wil sah sich nur einmal um. Allanon stand noch immer auf der Höhe des Hügels, auf allen Seiten umgeben von Dämonen-Wölfen und Katzenwesen, die immer näher rückten. Zu viele! Feuer schoß aus den Händen des Druiden, und er verschwand in einem nebelhaften Chaos aus Rauch und dunklen, zuckenden Leibern.
Ein sechster Sinn warnte Wil plötzlich vor neuer Gefahr. Hastig wandte er den Blick von der Schlacht oben auf der Anhöhe. Aus dem Nichts tauchte plötzlich eine neue Rotte Dämonen-Wölfe auf. In riesigen, lautlosen Sprüngen jagten sie Artaq entgegen. Wil verspürte einen Anflug kopfloser Angst. Er und Amberle waren zwischen den Ungeheuern und dem Fluß eingekeilt. Vor ihnen stand wie eine Mauer dichter Wald, der ihnen den Fluchtweg abschnitt, hinter ihnen die Dämonen, denen sie eben erst entflohen waren. Es gab keine Rettung.
Artaq zögerte nicht. Er schlug einen Haken und stürmte zum Silberfluß zurück. Die Wölfe folgten, lautloses, schwarzes Entsetzen. Wil war überzeugt, daß sie diesmal nicht entrinnen würden. Allanon war nicht mehr da; er konnte ihnen nicht mehr helfen. Sie waren ganz allein auf sich gestellt.
Der Silberfluß kam näher. Nirgends war eine seichte Stelle, nirgends eine Furt zu sehen — nur mondschimmerndes Wasser, das zu tief, dessen Strömung zu schnell war, um eine Durchquerung zu wagen. Und doch verlangsamte Artaq sein Tempo nicht. Wie groß auch immer die Gefahrsein mochte, die eine Überquerung des Flusses mit sich brachte, der Rappe hatte sich entschieden. Er war entschlossen, es mit dem Fluß aufzunehmen.
Auch die Dämonen-Wölfe spürten das. Weniger als dreißig Schritte zurück, warfen sie sich in wilder Entschlossenheit vorwärts, Wil und das Elfenmädchen doch noch zu fassen. Amberle schrie auf. Verzweifelt suchte Wil in seinem Kittel nach dem Lederbeutel mit den Elfensteinen. Dabei wußte er nicht einmal, ob er fähig sein würde, sie zu gebrauchen. Er wußte nur, daß er etwas tun mußte. Doch er hatte sich ihrer zu spät erinnert. In demselben Moment, als seine Hand sich um die Steine schloß, erreichten sie das Ufer des Flusses. Artaq zog sich zusammen wie eine Feder und sprang. Wil und Amberle klammerten sich an seinen Rücken. Und im selben Augenblick erstrahlte rund um sie herum ein gleißendes weißes Licht und bannte sie in der Bewegung, als wären sie in einem Bild eingefangen worden. Die Wölfe verschwanden. Der Silberfluß versank. Alles war fort. Sie waren allein und stiegen langsam aber stetig ins Licht auf.
12
Vor den Anfängen der Zeit war er da. Vor den Anfängen der Geschichte der Menschheit. Ja, selbst vor dem Krieg zwischen Gut und Böse, der das Wesen des Lebens, das nach ihm folgte, für immer festlegte. Er war schon in jener Zeit da, als die Welt ein geheiligtes Eden war und alle Lebewesen in Frieden und Harmonie miteinander lebten. Damals war er jung, selbst ein Zauberwesen, während die Zaubergeschöpfe der Erde gerade geboren wurden. Er lebte in einem Garten, der seiner Obhut anvertraut worden war; ihm war die Verantwortung übergeben, dafür zu sorgen, daß der Garten und alle Wesen, die in ihm lebten, gepflegt und erhalten wurden, behütet und erneuert. Er hatte keinen Namen, denn Namen wurden nicht gebraucht. Er war der, der er war, und sein Leben stand gerade erst am Anfang.