Verborgen war ihm geblieben, was dereinst aus ihm werden sollte. Seine Zukunft war eine unbestimmte und ferne Verheißung gewesen, die geisterhaft durch das Labyrinth seiner Träume schwebte, und er hätte ihre Wirklichkeit nicht voraussehen können. Er hätte nicht vorahnen können, daß sein Leben nicht wie das anderer Lebewesen endlich sein werde, sondern fortdauern sollte über Jahrhunderte des Sterbens und Geborenwerdens — ewig. Er hatte nicht voraussehen können, daß alle jene, die gleichzeitig mit ihm, und alle jene, die erst viel später das Licht der Welt erblickten, ob Feenwesen oder Mensch, vergehen und vergessen würden, während er allein weiterleben sollte. Und er hätte es auch nicht gewollt, denn er war noch jung genug, um davon überzeugt zu sein, daß seine Welt immer so bleiben würde, wie sie damals war. Hätte er gewußt, daß es ihm bestimmt war zu erleben, wie sie sich bis zur Unkenntlichkeit veränderte, er hätte nicht überleben wollen. Er hätte sich zu sterben gewünscht, eins zu werden wieder mit der Erde, die ihn hervorgebracht hatte.
Doch er sollte der letzte fortglühende Funke jener goldenen Zeit werden, die die Erschaffung der Welt regierte; der letzte fortglühende Funke von Frieden und Harmonie, von Licht und Schönheit, die das Paradies des Lebens waren. So war es in der Dämmerung der Anfänge bestimmt worden, und so war auf ewig der Lauf seines Lebens, auf ewig der Sinn seines Lebens verändert worden. Er sollte einer Welt, die ihre Mitte verloren hatte, Erinnerung an das sein, was gewesen war. Und er sollte auch Verheißung dafür sein, daß all das, was gewesen war, eines Tages vielleicht wiederkehren würde.
Zu Beginn hatte er dies nicht verstanden. Nur Bestürzung und Schmerz hatte die Entdeckung geweckt, daß die Welt sich veränderte, daß ihre Schönheit welkte und ihr Licht erlosch — daß all das, was mit Frieden und Harmonie erfüllt gewesen war, verloren sein sollte. Bald aber war sein Garten das einzige, was blieb. Von allen denen, die mit ihm in die Welt gekommen waren, war nicht ein einziger mehr da. Er war allein. Von Schmerz und Selbstmitleid gequält, drohte er eine Zeitlang zu verzweifeln. Dann wollten die Klauen der Veränderung, die das Land rund um ihn herum gewandelt hatten, auch nach seiner kleinen Welt greifen und sie auf den Kopf stellen. Da besann er sich der ihm auferlegten Pflichten und nahm den langen und schwierigen Kampf um die Erhaltung des Gartens auf, der sein Heim war. Dieses letzte Bollwerk der ersten Welt sollte überleben, auch wenn alles andere verloren war. Die Jahre verrannen, und sein Kampf dauerte fort. Er merkte, daß er kaum alterte. Er entdeckte in sich eine Kraft, von der er nicht gewußt hatte, daß er sie besaß. Nach einiger Zeit erkannte er den Sinn seines einsamen Daseins — eine neue Verantwortung war ihm übertragen worden, und er durfte sich dieser Verantwortung nicht entziehen. Mit der Erkenntnis kam die Annahme, und mit der Annahme das Verstehen.
Jahrhundertelang lebte und kämpfte er im Verborgenen, und sein Dasein war den Völkern, die rund um ihn herum bauten, nicht mehr als ein Mythos, ein Märchen, das man mit einem wehmütigen Lächeln und besserwisserischer Nachsicht erzählte. Erst nach der alles verheerenden Katastrophe, die die Menschen die Großen Kriege nannten, nach der endgültigen Zerstörung der alten Welt und dem Auftauchen der neuen Rassen, erst da begann man, den Mythos als Wahrheit zu akzeptieren. Damals nämlich entschloß er sich zum erstenmal, aus seinem Garten in das Land hinauszugehen. Er tat es nach sorgfältiger Überlegung. Es gab wieder einen Zauber in der Welt, und dies war der edelste und höchste Zauber — der Zauber des Lebens. Das Land draußen war neu und frisch, und er sah in dieser Wiedergeburt eine Gelegenheit, all das Wiederaufleben zu lassen, was er gekannt hatte, als er jung gewesen war. Durch ihn konnten Vergangenheit und Zukunft vielleicht endlich vereint werden. Es würde nicht leicht werden und auch nicht schnell erfolgen; aber es würde kommen. Er konnte sich nun nicht länger in der Abgeschiedenheit seines Gartens verborgen halten. Er mußte herauskommen. Sein kleines Heiligtum barg den Keim all dessen, was die Welt wiedergewinnen mußte, wenn sie fortbestehen wollte. Er sah, daß es nicht genügte, ihn zu erhalten. Er sah, daß er kultiviert werden mußte — mehr, daß dieser Keim aus der alten Welt sichtbar und zugänglich gemacht werden mußte. Und er mußte dafür Sorge tragen, daß dies geschah.
So verließ er also den Garten, der so viele Jahrhunderte lang sein Heim gewesen war, und durchstreifte das Land, das ihn umgab. Eine Landschaft freundlicher grüner Ebenen und sanft wogender Hügel war es, schattiger Waldtäler und stiller Seen, durchzogen von einem Fluß, der ihre Lebensader war. Doch er entfernte sich nicht weit von seinem Garten, denn ihm galt seine erste Sorge, und die Notwendigkeit, ihn zu pflegen und zu hegen, verlangte, daß er in seiner Nähe blieb. Aber er brauchte auch gar nicht weit zu wandern. Das Land, das er vorfand, gefiel ihm. Er pflanzte in seinem Herzen den Keim der ersten Welt, drückte ihm sein Zeichen auf, verlieh ihm einen besonderen Glanz, der es leicht erkennbar machte, gab seinen Bewohnern und den Wanderern, die es durchstreiften, seinen Segen und bot ihnen Schutz gegen alles Böse. Im Lauf der Zeit begannen die neuen Rassen zu begreifen, was er vollbracht hatte; man sprach von ihm und seinem Land mit Ehrfurcht und Achtung. Allenthalben in den Vier Ländern begann man sich seine Geschichte zu erzählen. Sie wuchs und wuchs, bis sie schließlich zur Legende geworden war.
Man gab ihm den Namen des Landes, das er zu seinem eigenen gemacht hatte. Man nannte ihn den König vom Silberfluß.
Wil und Amberle erschien er in der Gestalt eines alten Mannes. Grau und gebeugt von der Last der Jahre trat er aus dem Licht. Seine Gewänder umwallten seinen mageren Körper. Das Haar fiel ihm in vollen, weißen Wellen auf die Schultern. Das Greisengesicht war zerknittert und von der Sonne gebräunt; die tiefblauen Augen hatten die Farbe des Meeres. Lächelnd begrüßte er sie, und Wil und Amberle erwiderten das Lächeln, da sie spürten, daß diesem Mann nichts Böses anhaftete. Sie saßen immer noch auf dem breiten Rücken des Rappen, der, den Körper noch in vollem Lauf gestreckt, bewegungslos war in dem Licht, das sie alle in Reglosigkeit gebannt hielt. Weder der junge Mann noch das Elfenmädchen verstanden, was geschehen war, doch sie verspürten keine Furcht, nur eine tiefe, tröstliche Schläfrigkeit, die sie mit der Kraft eiserner Ketten umfangen hielt.
Verschwommen und undeutlich im Dunsthauch des Lichts, blieb der alte Mann vor ihnen stehen. Seine Hand berührte Artaqs edlen Kopf, und der Rappe wieherte leise. Dann richtete der Greis den Blick auf Amberle, und in seinen Augen schimmerten Tränen.
»Ach, Kind, wärst du mein«, flüsterte er und trat näher, um ihre Hand in die seine zu nehmen. »Nichts Böses soll dir in diesem Land widerfahren. Wir sind am Ziel vereint und werden eins sein mit der Erde.«
Wil wollte etwas entgegnen und konnte es nicht. Der alte Mann trat wieder zurück und hob eine Hand zum Lebewohl.
»Ruht euch jetzt aus. Schlaft.« Seine Gestalt begann zu zerfließen, als er ins Licht zurückglitt. »Schlaft, Kinder des Lebens.«
Wil wurden die Augen schwer. Es war ein angenehmes, willkommenes Gefühl, und er sträubte sich nicht dagegen. Er spürte Amberles zarte Gestalt schwer an seinem Rücken. Locker hielten ihre Hände seine Mitte umfangen. Das Licht schien zurückzuweichen, in Dunkelheit zu verbleichen. Seine Augen fielen zu, und er schlief ein.
Er träumte. Er stand inmitten eines Gartens von unbeschreiblicher Schönheit und Heiterkeit. So wundersam war dieser Garten in der Pracht seiner Farben und dem süßen Hauch seiner Düfte, daß alles, was er in seinem Leben erfahren oder sich vorgestellt hatte, daneben verblaßte. Silbern glitzernde Bäche ergossen sich aus verborgenen Quellen in stille Teiche. Mächtige Bäume breiteten starke Äste aus, und durch ihr Laub sickerte das Sonnenlicht und tauchte alles darunter in ein Gesprenkel warmen Goldes. Weiches, süßes Gras polsterte smaragdgrün die Wege und Pfade. Eine unendliche Vielfalt von Vögeln, Fischen und anderen Tieren belebte den Garten — lebte in Harmonie und Zufriedenheit und Frieden. Wil Ohmsford war erfüllt von einem Gefühl tiefer, bleibender Ruhe, von einem Glücksempfinden so tief, daß er weinte.