Wil stand ihr Rede und Antwort. Er begann mit der Geschichte seines Großvaters, Shea Ohmsford, und der Suche nach dem Schwert von Shannara, und er endete mit Allanons Auftauchen in Storlock und seinem Begehren, er — Wil Ohmsford — solle den Elfen bei der Suche nach dem Blutfeuer helfen. Er erzählte ihr alles, verschwieg nichts, da er spürte, daß das Mädchen sich weigern würde, weiter in seiner Gesellschaft zu bleiben, wenn er ihr gegenüber nicht völlig ehrlich war.
Als er geendet hatte, blickte Amberle ihn stumm an und schüttelte dann den Kopf.
»Ich weiß nicht, ob ich dir glauben soll. Wahrscheinlich doch. Ich habe eigentlich keinen Grund, es nicht zu tun. Aber es ist einfach so viel geschehen, daß ich jetzt vollkommen unsicher bin.« Sie zögerte. »Ich habe von den Elfensteinen gehört. Sie waren ein altes Zaubermittel, von dem es hieß, es sei lange vor den Großen Kriegen verlorengegangen. Und du behauptest nun, Allanon hätte drei von ihnen deinem Großvater gegeben, und der wiederum hätte sie dir geschenkt. Wenn dem so wäre…« Sie verstummte, den Blick forschend auf Wil gerichtet. »Würdest du sie mir zeigen?« fragte sie dann.
Wil zögerte, dann griff er in seinen Kittel. Er wußte, daß sie ihn auf die Probe stellen wollte. Aber, sagte er sich, dazu hatte sie wohl auch ein Recht. Schließlich stand ja nur sein Wort dafür, daß seine Erklärungen der Wahrheit entsprachen, und von ihr wurde verlangt, daß sie ihre Sicherheit in seine Hände legte. Er zog den abgegriffenen Lederbeutel heraus, lockerte die Zugschnüre und schüttete die Steine in seine Hand. Sie waren von vollendeter Form. Leuchtend blau glänzten sie im morgendlichen Sonnenlicht.
Amberle neigte sich tief über sie und betrachtete sie mit feierlichem Ernst. Dann richtete sie den Blick wieder auf Wil.
»Woher weißt du, daß es die Elfensteine sind?«
»Ich habe darauf das Wort meines Großvaters. Und Allanons.«
Sie schien nicht beeindruckt.
»Kannst du dich ihrer denn bedienen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich habe es nie versucht.«
»Dann weißt du also in Wirklichkeit gar nicht, ob sie dir nützen oder nicht.« Sie lachte leise. »Das wirst du erst erfahren, wenn du sie brauchst. Kein sehr beruhigender Gedanke, nicht?«
»Nein«, stimmte er zu.
»Aber trotzdem bist du mitgekommen.«
Er zuckte die Schultern.
»Es erschien mir richtig.« Er ließ die Elfensteine wieder in den Beutel gleiten und steckte ihn in die Tasche seines Kittels zurück. »Mir wird nichts anderes übrigbleiben als abzuwarten, was geschieht, wenn es soweit ist.«
Einen Lidschlag lang musterte sie ihn aufmerksam, ohne etwas zu sagen. Wil schwieg.
»Wir haben vieles gemeinsam, Wil Ohmsford«, erklärte sie schließlich. Sie umschlang ihre Beine mit den Armen. »Nun hast du mir kundgetan, wer du bist. Dann hast du wohl ein Recht darauf auch zu erfahren, wer ich bin. Mein Familienname lautet Elessedil. Eventine Elessedil ist mein Großvater. In gewisser Weise sind wir beide durch unsere Großväter in diese Sache hineingeraten.«
Wil nickte. »Ja, das ist wohl wahr.«
Der Wind faßte ihr kastanienbraunes Haar und blies es wie einen Schleier über ihr Gesicht. Sie strich es sich aus den Augen und blickte wieder über den See.
»Du weißt, daß ich nicht nach Arborlon zurückkehren möchte«, sagte sie.
»Ja, ich weiß es.«
»Aber du bist der Meinung, daß ich dorthin gehen sollte, nicht wahr?«
Er lehnte sich zurück und stützte sich auf seine Ellbogen und blickte zu dem Regenbogen am Himmel auf.
»Ich glaube, daß du dorthin gehen mußt«, erwiderte er. »Nach Havenstead kannst du nicht zurück; dort suchen dich die Dämonen. Bald werden sie dich auch hier suchen. Du mußt weiter. Wenn Allanon entkommen ist…» Er unterbrach sich, als ihm die Bedeutung dieser vier Worte klar wurde. »Wenn Allanon entkommen ist«, fuhr er dann fort, »wird er damit rechnen, daß wir nach Arborlon weiterreiten, und dort werden wir auf ihn stoßen.« Er senkte den Kopf und sah sie an. »Wenn du bessere Vorschläge hast, dann lasse sie hören.«
Lange Zeit antwortete sie nicht, sondern starrte wortlos auf den Regenbogen-See hinaus, vertieft in die anmutige Bewegung des Wassers. Als sie endlich doch den Mund öffnete, war es nur ein Flüstern.
»Ich habe Angst.«
Jetzt erst sah sie ihn an. Es schien, als wollte sie noch etwas sagen, aber dann überlegte sie es sich anders. Sie lächelte — das erste echte Lächeln, das er bei ihr bemerkte.
»Hm, wir sind zwei ausgemachte Narren, nicht wahr? Du mit deinen Elfensteinen, von denen du gar nicht weißt, ob sie überhaupt echt sind, und ich auf dem Weg dorthin, wohin ich niemals in meinem Leben zurückkehren wollte.«
Sie stand auf und tat ein paar Schritte. Als er sich ebenfalls erhob, wandte sie sich ihm zu. »Eines sollst du wissen: Ich halte diese Reise nach Arborlon für sinnlos. Ich glaube, daß Allanon sich täuscht. Weder der Ellcrys noch das Elfenvolk werden mich wieder aufnehmen; denn ich bin keine Erwählte mehr, ganz gleich, was der Druide meint. Aber etwas anderes zu tun, hätte wohl auch nicht viel Sinn, wie?«
»In meinen Augen nicht.«
Sie nickte. »Dann ist es abgemacht.« Das kindliche Gesicht war ernst, als sie ihn ansah. »Ich hoffe nur, daß alles nicht ein großer Irrtum ist.«
Wil seufzte. »Wenn es das ist, werden wir es wahrscheinlich bald genug erfahren.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Komm, holen wir Artaq und reiten wir los. Dann wird es sich schon zeigen.«
Zwei Tage lang ritten sie nun in nord-westlicher Richtung durch das weite Grasland von Callahorn. Das Wetter war warm und trocken, und die Zeit flog schnell dahin. Gegen Mittag des ersten Tages ballten sich im Norden über den scharf zackigen Felsgipfeln der Drachenzähne drohende Gewitterwolken zusammen, doch bei Sonnenuntergang hatten frische Winde sie nach Osten zur Rabb-Ebene getrieben und endgültig verjagt.
Wil und Amberle suchten Artaq zu schonen, indem sie abwechselnd zu Fuß gingen oder beide zusammen auf ihm ritten. Artaq wirkte auch noch frisch, nachdem er sie mehrere Stunden getragen hatte, aber Wil wollte auf keinen Fall ein Risiko eingehen. Von den Dämonen, die sie am Silberfluß abgeschüttelt hatten, sahen sie keine Spur, doch sie zweifelten nicht daran, daß die Ungeheuer weiterhin nach ihnen auf der Suche waren. Und wenn sie ihnen erneut auf die Spur kommen sollten, dann mußte Artaq bei Kräften sein.
Da sie außer einem kleinen Jagdmesser, das Wil im Gürtel trug, keine Waffen besaßen, mußten sie sich von Früchten und Kräutern nähren, die in der weiten, grasigen Ebene wild wuchsen.
In der ersten Nacht schliefen sie unter einer Gruppe von Balsampappeln, dicht gelegen an einer kleinen Quelle, die ihnen frisches Trinkwasser spendete. Am Nachmittag des zweiten Tages erreichten sie den Mermidon und folgten seinem Lauf in nördlicher Richtung. Bisher waren sie keiner Menschenseele begegnet, doch nun stießen sie auf ein halbes Dutzend Reisender, von denen einige zu Fuß unterwegs waren, andere zu Pferd. Alle tauschten sie ein freundliches Wort und ein Winken mit ihnen, bevor sie ihre Reise fortsetzten.
Bei Sonnenuntergang schlugen sie am Ufer des Mermidon im Schutz eines Wäldchens aus Föhren und Weiden ihr Lager auf. Sie befanden sich nun südwestlich der Stadt Tyrsis. Aus einer Weidengerte, einem Stück Schnur und einem Haken seines Umhangs fertigte Wil eine Angel, und eine halbe Stunde später hatte er tatsächlich zwei Barsche gefangen. Er hockte noch am Flußufer und schuppte die Fische, als aus Süden ein Wagenzug in Sicht kam, der gemächlich zum anderen Ufer hin in Bewegung war. Hell blitzten die hübsch bemalten Häuser auf Rädern mit ihren Spitzdächern aus Holzschindeln, die handgeschnitzten Holztüren und messingverzierten Fensterrahmen in der Abendsonne. Die Wohnwagen wurden von kräftigen Pferden gezogen, auf deren Geschirr Silberbeschläge funkelten. Mehrere Reiter begleiteten den Zug. Sicher und anmutig saßen sie in ihren seidenen Umhängen in den Sätteln ihrer Pferde, von deren Zügeln wehende bunte Bänder herabhingen.