Wenig später begann es zu dunkeln, der Tag versank im Zwielicht, das Zwielicht wurde von der Nacht verschluckt. Sie marschierten weiter, obwohl sie jetzt die Spuren der Wagenräder nicht mehr erkennen konnten. Sich ganz auf ihren Richtungssinn verlassend, versuchten sie, in gerader Linie westwärts zu wandern. Mond und Sterne erwachten blitzend am Nachthimmel und sandten ihr weiches Licht in die Ebene hinunter, um den Talbewohner und das Elfenmädchen zu führen. Schmutz und Schweiß erkalteten und trockneten auf den Körpern der beiden jungen Menschen, und sie spürten, wie ihre Kleider unangenehm steif wurden. Keiner von beiden jedoch dachte daran, den anderen zu einer Rast aufzufordern. Stumm und entschlossen wanderten sie weiter, das Mädchen ebenso wie der junge Mann. Ihn überraschte die Ausdauer des Elfenmädchens, und er bewunderte ihre Tatkraft und ihren Mut.
Dann sahen sie in der Ferne ein Licht. Es waren Flammen, die wie ein Leuchtfeuer die Nacht erhellten. Sie hatten die Fahrensleute gefunden. Ohne ein Wort zu wechseln, trotteten sie näher an den Feuerschein heran; die Giebeldächer der Wagen nahmen in der Nacht allmählich Form und Gestalt an, und schließlich sahen sie vor sich den Wagenzug, in losem Kreis gruppiert, wie am Abend zuvor am Ufer des Mermidon.
Wil nahm Amberle bei der Hand und zog sie mit sich herunter, als er sich niederkauerte.
»Wir gehen rein«, flüsterte er, ohne den Blick vom Lager der Fahrensleute zu wenden.
Sie starrte ihn ungläubig an.
»Das ist dein Plan?«
»Ich kenne mich mit diesen Leuten ganz gut aus. Mach einfach alles mit, was ich sage, dann wird’s schon klappen.«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, stand er auf und machte sich auf den Weg zum Wagenzug. Das Elfenmädchen blickte ihm einen Moment lang unschlüssig nach, dann stand auch sie auf und folgte ihm. Als sie sich dem Kreis der Wagen näherte, wurden die Gesichter der Männer, Frauen und Kinder sichtbar, die sich im Feuerschein hin und her bewegten. Gelächter und Stimmengewirr drangen zu ihnen. Die Fahrensleute hatten gerade ihr abendliches Mahl beendet, hier und dort stattete eine Familie einer anderen einen Besuch ab. Von irgendwoher kam der melodische Schlag eines Saiteninstruments.
Fünfzig Schritte von der Wagenburg entfernt stieß Wil einen Ruf aus. Amberle war so überrascht, daß sie zusammenfuhr. Drinnen im Lager hielten alle in ihrer jeweiligen Tätigkeit inne. Die Köpfe flogen herum. Eine Handvoll Männer tauchte an der Lücke zwischen den Wagen auf, die den sich nähernden jungen Leuten am nächsten war. Stumm spähten die Männer in die Nacht hinaus. Der Feuerschein loderte hinter ihnen, so daß ihre Gesichter im Schatten lagen, und nicht zu erkennen waren. Wil zögerte nicht. Er ging direkt auf sie zu. Amberle folgte ihm mit einem Schritt Abstand. Im ganzen Lager war es mucksmäuschenstill.
»Guten Abend«, sagte Wil freundlich, als er die Gruppe von Männern erreichte, die ihnen den Durchgang ins Lager versperrte.
Die Männer antworteten nicht. Im tanzenden Schimmer des Feuers sah Wil Ohmsford das Blitzen eiserner Klingen.
»Wir haben euer Feuer gesehen und dachten, ihr könntet uns etwas Wasser geben«, fuhr er immer noch lächelnd fort. »Wir marschieren seit Tagesanbruch ohne Wasser und sind der Erschöpfung nahe.«
Ein hochgewachsener Mann in einem waldgrünen Umhang und einem breitkrempigen Hut — der Mann, den sie am Fluß gesehen hatten — drängte sich durch das Knäuel schweigender Männer.
»Ah, die jungen Reisenden von gestern abend«, stellte er ruhig fest, ohne sie zu begrüßen.
»Ach, guten Abend«, sagte Wil nochmals in aller Freundlichkeit. »Wir haben leider großes Pech gehabt. Im Lauf der Nacht ist uns unser Pferd abhanden gekommen — es ist offenbar ausgerissen, während wir schliefen. Nun sind wir den ganzen Tag ohne Wasser marschiert und wären dankbar für einen Schluck zu trinken.«
»Ah ja.« Der große Mann lächelte ohne Wärme. Er war sehr hochgewachsen, mager und grobknochig, mit einem dunklen Gesicht, das von einem schwarzen Bart umrahmt war. Er verlieh seinen Zügen eine solche Düsternis, daß sein Lächeln beinahe bedrohlich wirkte. Augen, schwärzer als die Nacht, blickten unter einer von Wind und Wetter gegerbten Stirn hervor, die in eine Hakennase überging. Mit beringter Hand winkte der Mann den anderen, die hinter ihm standen.
»Laßt Wasser bringen«, befahl er, den Blick noch immer auf den Talbewohner gerichtet. In seiner Miene regte sich nichts. »Wer seid Ihr, junger Freund, und wohin des Wegs?«
»Mein Name ist Wil Ohmsford«, antwortete der Talbewohner. »Dies ist meine Schwester Amberle. Wir sind auf dem Weg nach Arborlon.«
»Arborlon.« Nachdenklich wiederholte der hochgewachsene Mann diesen Namen. »Hm, ihr seid natürlich Elfen — das sieht jeder Blinde. Wenn auch vielleicht noch anderes Blut in eueren Adern fließt. Hm, ihr sagt, daß ihr euer Pferd verloren habt. Wäre es nicht klüger gewesen, dem Mermidon zu folgen, anstatt geradewegs nach Westen zu wandern?«
Wil ließ wieder sein Lächeln strahlen.
»Oh ja, daran haben wir auch gedacht; aber seht ihr, es ist von größter Wichtigkeit, daß wir Arborlon so bald wie möglich erreichen. Ein Fußmarsch würde viel zu lange dauern. Wir haben euch und eure Leute natürlich gestern abend am anderen Ufer gesehen und haben auch bemerkt, daß ihr eine Anzahl sehr schöner Pferde besitzt. Da dachten wir, daß ihr uns vielleicht eines eurer Pferde überlaßt, wenn wir euch etwas von Wert dafür geben.«
»Etwas von Wert?« Der hochgewachsene Mann zuckte die Schultern. »Vielleicht. Wir mußten natürlich erst einmal sehen, was Ihr uns zu bieten habt.«
Wil nickte. »Natürlich.«
Eine alte Frau erschien, die einen Krug Wasser und einen hölzernen Becher brachte. Sie reichte beides Wil. Er nahm es wortlos entgegen. Unter den Blicken der Fahrensleute goß er etwas Wasser in den Becher. Ohne ihn Amberle anzubieten, die ihn erstaunt anstarrte, trank er das Wasser hinunter. Dann schenkte er einen zweiten Becher ein und trank auch den aus. Als er fertig war, reichte er Amberle den leeren Becher und den Krug ohne ein Wort.
»Mir scheint, Ihr kennt die Sitte«, bemerkte der hochgewachsene Mann, und Interesse flackerte in seinen dunklen Augen auf. »Dann wißt Ihr auch, daß wir Fahrensleute sind.«
»Ja, ich habe schon Fahrensleute behandelt«, erwiderte Wil. »Ich bin ein Heilkundiger.«
Ein Murmeln pflanzte sich durch die Gruppe von Menschen fort, die seit dem Beginn des Gesprächs beträchtlich angewachsen war. Nahezu das vollständige Lager hatte sich jetzt versammelt, etwa dreißig Männer, Frauen und Kinder, alle in farbenprächtige seidene Gewänder mit bunten Bändern und Schals gekleidet.
»Ein Heilkundiger? Das ist eine Überraschung.« Der hochgewachsene Mann trat vor, zog mit schwungvoller Geste seinen Hut und verbeugte sich. Als er sich wieder aufrichtete, bot er Wil die Hand zum Gruß. »Mein Name ist Cephelo. Ich bin der Führer dieser Familie.«
Wil nahm die dargebotene Hand und schüttelte sie. Cephelo lächelte.
»Aber ihr solltet nicht hier draußen in der Kälte der Nacht stehen bleiben. Kommt mit mir. Auch Eure Schwester ist uns willkommen. Ihr seht mir beide aus, als könntet ihr ein Bad und ein kräftiges Mahl gebrauchen.«
Er führte sie durch das Gedränge der Fahrensleute ins Innere des Wagenkreises. Ein mächtiges Feuer brannte in der Mitte des Lagers, und darüber stand ein Dreifuß, von dem ein eiserner Kessel herabhing. Der Schein des Feuers spiegelte sich in den buntbemalten Wagen, so daß sich der Regenbogen von Farben mit den Schatten der Nacht mischte. Kunstvoll geschnitzte und glänzend polierte Holzbänke standen zu Füßen der Wagen. Die breiten Sitze waren mit Federkissen gepolstert. In den offenen Fenstern, deren Messinggriffe blitzten und funkelten, spielte ein leichter Wind mit Spitzenvorhängen und Perlschnüren. Auf einem langen Tisch, der etwas abseits stand, lag ein ganzes Sortiment ordentlich aufgereihter Waffen — Spieße, Schwerter und Messer. Zwei kleine Jungen waren damit beschäftigt, eifrig und gewissenhaft die scharfen Klingen mit Öl einzureiben.