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Am Ende des Durchgangs führte ein Tor in einen großen Hof, der vom Heulen des Windes erfüllt war. Zu beiden Seiten einer Brustwehr führten Treppen zu einem Söller vor dem Hauptturm der uralten Festung hinauf. Es war eine gewaltige steinerne Zitadelle, die Hunderte von Fuß in den Nachthimmel hinaufragte. Fenster kennzeichneten die verschiedenen Stockwerke des Turmes, der weit über das Land blickte. In der Mitte des Söllers, in eine schützende Nische eingelassen, befand sich eine hölzerne Tür. Darunter war eine zweite Tür, die vom Hof direkt in den Turm führte. Beide waren verschlossen.

Wil war gar nicht recht geheuer, als er den Blick über die uralten, verwitterten Mauern und Brustwehren wandern ließ. Der tobende Wind pfiff ihm um die Ohren und blies ihm Staub und Schmutz in die Augen. Er zog die Kapuze seines Umhangs tiefer in die Stirn. Die Festung war ihm unheimlich. Sie flößte ihm Angst ein. Die Geister der Toten waren hier zu Hause; Lebende waren hier Störenfriede. Er blickte Amberle an und sah das gleiche Unbehagen auf ihren Zügen.

Crispin hatte Dilph zum Söller hinaufgeschickt. Er selbst trat jetzt mit Katsin im Schlepptau auf die untere Tür im Turm zu. Den Riegel konnte er nicht öffnen, so warf er sich denn mit dem ganzen Gewicht seines Körpers gegen die Tür. Sie gab nicht nach. Sie widerstand auch Katsins Bemühungen. Wil beobachtete diese Anstrengungen, die Tür gewaltsam zu öffnen, mit wachsender Beunruhigung. Die Festung schloß sie alle ein wie ein Gefängnis. Er wollte nur fort von hier.

Dilph kam die Treppe vom Söller herunter. Seine Worte verloren sich beinahe im gellenden Heulen des Windes. Die obere Tür war offen. Crispin nickte. Nachdem er einige herumliegende Holzscheite aufgesammelt hatte, die ihnen im Turm als Fackeln dienen konnten, führte er die kleine Truppe die Treppe hinauf zum Söller. Die Tür oben war angelehnt. Crispin trat nur einen Schritt hinein, entzündete mit Zunder eines der Scheite als Fackeln, die er bei sich hatte, zündete eine zweite an und gab sie Dilph, winkte sie dann alle herein und drückte die Tür zu.

Sie befanden sich in einem kleinen Vorraum, von dem mehrere dunkle Gänge abzweigten. Hinten war eine Wendeltreppe, die sich vom Erdgeschoß aufwärts in die Finsternis wand. Dichter Staub hing in der vom Wind bewegten Luft, und das Felsgestein des Turms war durchdrungen vom modrigen Geruch ständiger Feuchtigkeit.

Die Fackel hoch in der Hand, schritt Crispin einmal durch den kleinen Raum, prüfte den schweren Eisenriegel, durch den die Tür gesichert war, und kehrte wieder zu den anderen zurück. Hier würden sie bis zum Morgen rasten. Katsin und Dilph würden im Hof Wache halten, während Wil und Amberle schliefen. Crispin würde sich inzwischen auf die Suche nach dem Durchgang machen, der sie durch den Berg zu den Ufern des Mermidon führen würde.

Dilph reichte Wil seine Fackel. Gefolgt von Katsin schlüpfte er in die Nacht hinaus. Crispin verriegelte die Tür hinter ihnen, ermahnte Wil und Amberle, sie keinesfalls zu öffnen, und verschwand dann in der Finsternis eines der Gänge. Wil und Amberle blickten ihm nach, bis das Licht seiner Fackel in der Schwärze unterging. Dann trat Wil an die Tür, steckte seine Fackel in einen eisernen Halter an der Wand, und hockte sich, den Rücken zur Tür gelehnt, auf dem Boden nieder. Amberle wickelte sich fest in ihre Decke und streckte sich neben ihm aus. Durch die Türritzen drang pfeifend der Wind und jagte mit gespenstischem Wimmern durch die dunklen Gänge.

Sie brauchten lange, bis sie einschliefen.

Wil konnte später nicht sagen, ob er überhaupt geschlafen hatte. Er hatte den Eindruck, daß es mehr ein Dahindämmern als ein Schlafen war, ein leichter, unruhiger Schlummer, in unsicherer Schwebe zwischen Wachen und Schlafen. Er träumte, irrte durch die Schleier des Halbschlafs, die wie Nebel über seinem Unbewußten hingen. Dunkelheit und Nebel senkten sich in einem Wald der Phantasien über ihn, und er verlor den Weg. Und doch, so schien es ihm, war er hier schon einmal gewesen. Sie war ihm vertraut, diese labyrinthhafte Landschaft, die er da durchwanderte, während Dunkelheit und Nebel sie verschleierten. Es war ein Traum und doch kein Traum …

Da spürte er plötzlich die schreckliche Gegenwart des Ungeheuers, das irgendwo in der Dunkelheit auf ihn lauerte, und schlagartig erinnerte er sich. Havenstead — diesen Traum hatte er in Havenstead gehabt. Das Ungeheuer hatte ihn verfolgt, und er war geflohen, doch vergebens geflohen, denn es hatte kein Entrinnen gegeben. Schließlich war er erwacht. Aber konnte er das jetzt auch? Helle Panik überfiel ihn. Es war wirklich da draußen, das Ungeheuer, das schreckliche Wesen. Es trachtete ihm nach dem Leben. Er konnte ihm nicht entfliehen, konnte ihm nicht entrinnen, wenn er nicht erwachte. Doch er konnte den Weg nicht finden, der aus Dunkelheit und Nebel herausführte.

Er hörte sich aufschreien, als es ihn packen wollte.

Augenblicklich war er wach. Die Elfensteine in der Tasche seines Kittels brannten wie Feuer an seinem Körper. Wild fuhr er unter seiner Decke hoch und blinzelte angespannt in das schummrige Licht der Fackel. Amberle setzte sich neben ihm auf, das Gesicht noch vom Schlaf umwölkt. Ihre Züge waren bleich und voller Angst. Mit unsicherer Hand berührte Wil die Elfensteine. War es sein Schrei gewesen, der sie beide geweckt hatte, fragte er sich. Doch das Elfenmädchen sah ihn gar nicht an. Sie starrte unverwandt auf die Tür.

»Da draußen«, wisperte sie.

Mit einem Sprung war Wil auf den Beinen, zog Amberle mit sich hoch. Er lauschte, doch er hörte nichts.

»Vielleicht war es der Wind«, sagte er schließlich leise und voller Zweifel. Er legte seine Hand auf ihren Arm. »Ich seh´ lieber mal nach. Sperr die Tür hinter mir ab. Mach nur auf, wenn du meine Stimme hörst.«

Er zog den schweren Eisenriegel zurück und glitt in die Nacht hinaus. Schrill pfiff der Wind durch die Tür, bevor er sie hinter sich schloß. Amberle schob den Riegel wieder vor und wartete.

Einen Moment lang kauerte Wil abwartend in der Dunkelheit der Türnische und spähte in die Nacht. Mondlicht erhellte den Söller und fiel milchig auf die Mauern und Brustwehren rundum. Vorsichtig huschte Wil zur Brüstung und blickte in den Hof hinunter. Er war leer. Von Katsin und Dilph war keine Spur zu sehen. Er zögerte, unsicher, was er tun sollte. Dann eilte er über den Söller zur Treppe. Dort hielt er noch einmal an, um den stillen Hof zu überblicken. Nichts. Er stieg die ersten Stufen hinunter.

Der wütende Wind fegte Staub und kleine Steine über den Hof. Wil glitt lautlos die Stufen hinunter. Er hatte beinahe den Hof erreicht, als er Katsin sah. Oder das, was von Katsin noch übrig war — ein Körper mit grotesk verrenkten Gliedern, der zusammengesunken an der Turmwand unter dem Söller hockte. Nur ein paar Fuß entfernt lag Dilph, kaum sichtbar unter dem schweren Holz der Turmtür, die so fest verschlossen gewesen war, daß keiner von ihnen sie hatte öffnen können.

Wil überlief es eiskalt. Der Raffer! Er hatte sie gefunden. Und er war im Turm!

Wie von Furien gejagt, stürzte er die Treppe zum Söller wieder hinauf. Hoffentlich war es nicht schon zu spät!

Amberle glaubte, aus der Düsternis des Treppenschachts hinter ihr ein Geräusch aufsteigen hören, das irgendwo aus den Tiefen des Turmes kam. Ängstlich sah sie sich um und lauschte. Sie hockte noch immer lauschend da, als jemand an die Turmtür trommelte. Mit einem erschreckten Aufschrei sprang sie auf.

»Amberle! Mach auf!«

Es war Wils Stimme, kaum hörbar im Toben des Windes. Hastig schob sie den schweren Riegel zurück. Wil schoß herein und schlug krachend die Tür hinter sich zu. Sein Gesicht war kreideweiß vor Angst.

»Sie sind tot — alle beide!« Nur mit Anstrengung gelang es ihm, leise zu sprechen. »Der Raffer hat sie ermordet. Er ist hier, in diesem Turm!«