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Wil und Amberle musterten den Riesenvogel mit skeptischen Blicken. Hätte es einen anderen Weg gegeben, sie hätten ihn mit Freuden eingeschlagen. Allein schon der Gedanke an das Fliegen machte ihnen Angst. Doch es gab keine Alternative, und da stand der Junge, die Hände in die Hüften gestemmt, und wartete darauf, daß es endlich losging. Mit einem Schulterzucken erklärte Wil, sie seien bereit. Lieber Himmel, wenn ein Knabe dies konnte, dann konnten sie es doch gewiß auch.

Perk folgend, gingen sie zu Genewen hinüber. Der Riesenvogel trug ein ledernes Geschirr, das eng um seinen Körper lag. Perk zeigte ihnen die Fußschlingen, die ihnen gestatteten, an dem Geschirr bis zur Mitte des gefiederten Rückens hochzuklettern. Er hielt Genewen ruhig, während sie hinaufstiegen, schob ihre Stiefel dann in lederne Schlaufen, führte ihre Hände zu verknoteten Haltegriffen und band sie vorsichtshalber schließlich noch mit Sicherheitsgurten an das Geschirr. So, klärte er sie auf, würden sie auch dann nicht abstürzen, wenn ein starker Wind sie vom Rücken des Vogels herunterwehen sollte. Wil und Amberle, die auch ohne diese Aussicht Angst genug hatten, fanden das wenig tröstlich. Als sie beide fest saßen, gab Perk jedem von ihnen ein kleines Stück einer bräunlichen Wurzel und sagte, sie sollten sie gut kauen und dann hinunterschlucken. Diese Wurzel, erklärte er, helfe gegen das Unwohlsein während des Flugs. Sie schoben sie eiligst in den Mund.

Der Elfenjunge saß nun ebenfalls auf, zog unter den Gurten des Geschirrs eine lange, mit Leder umwickelte Peitsche hervor und versetzte Genewen einen scharfen Schlag. Mit einem durchdringenden Schrei spannte der Rock seine gewaltigen Schwingen aus und stieg steil in den leuchtenden Morgen auf. Starr vor Angst sahen Wil und Amberle, wie die grüne Wiese unter ihnen zurückblieb. Die Fichten, unter denen sie geschlafen hatten, schienen zu schrumpfen, als Genewen hoch über dem grünen Weideland kreiste, sich von den Strömungen des Windes weiter aufwärts tragen ließ und in weitem Bogen westwärts flog, den Gipfeln der Berge entgegen.

Wil und Amberle wurden von einer Mischung seltsamer Gefühle überwältigt, die zwischen Angst und Schwindel einerseits und jauchzendem Frohlocken andererseits schwankten. Nur der Saft der fremdartigen Wurzel verhinderte, daß sich ihnen der Magen umdrehte. Mit der Zeit jedoch vergingen Schwindel und Übelkeit, während das Gefühl schwereloser Beschwingtheit intensiver wurde und ganz von ihnen Besitz ergriff und sie auf das weite Land hinunterblickten, das sich in einem überwältigenden Panorama von Wäldern, Sümpfen, Bergen und Flüssen unter ihnen dehnte. Es war ein unbeschreiblicher Anblick. Vor ihnen stießen die schwarzen Spitzen des Steinkamms wie zackige Zähne aus der Erde empor, und das dünne blaue Band des Mermidon schlängelte sich aus dem unfruchtbaren Fels ins flache Wiesenland hinaus. Im Norden, eingeschlossen vom Grün der Westland-Wälder, lag dunkel und verschleiert das Wirrnismoor. Im Osten, jetzt weit entfernt, ragten die Zwillingstürme des Pykon in den Himmel. Im Süden hüllten die brodelnden Dämpfe, die aus dem Totenmoor aufstiegen, das Irrybis-Gebirge in graue Schleier. Da lag es unter ihnen ausgebreitet, das ganze Land, scharf gezeichnet von der Morgensonne, die aus einem wolkenlosen, leuchtendblauen Himmel herunterbrannte.

Genewen stieg zu einer Höhe von mehreren hundert Fuß auf, während sie mit stetigem Flügelschlag immer tiefer in das Steinkamm-Gebirge hineinflog, sich in diesem Felslabyrinth mit sicherem Instinkt ihren Weg suchte, durch Spalten und Klüfte tauchte, in Täler hinabstieß, dann wieder steil nach oben stieg, um einen neuen scharfzackigen Rücken zu überwinden. Wil und Amberle klammerten sich eisern mit ihren Händen an ihren Riemen fest, doch es war ein runder, glatter Flug; der gewaltige Vogel sprach auf jede Bewegung des Knaben, der ihn lenkte, an. Der Wind fegte in kurzen Böen über sie hinweg, doch er war freundlich und warm an diesem Sommertag, wehte sacht aus Süden. Ab und zu warf Perk einen Blick über die Schulter auf seine neuen Freunde und lachte über das ganze sommersprossige Gesicht. Der Höflichkeit halber lächelten sie zurück, doch Begeisterung sprach nicht aus diesem Lächeln.

Fast schon eine Stunde dauerte der Flug, immer tiefer hinein in das Gebirge, bis die grünen Wälder ganz aus ihrem Blickfeld entschwunden waren. Von Zeit zu Zeit konnten sie durch eine Lücke im Zackenwald die Dämpfe des Totenmoores sehen, das grau und abweisend im Süden lag. Dann aber schlossen sich die Berge wie eine undurchdringliche Wand um sie, massige Felstürme, die das Sonnenlicht verdunkelten. Flüchtig dachte Wil daran, wie es wohl gewesen wäre, wenn er und Amberle versucht hätten, diese grimmigen Berge zu Fuß zu überqueren. Es schien unmöglich, daß sie es geschafft hätten, schon gar nicht ohne die Hilfe der Elfenjäger. Die Dämonen, dachte er, jagten ihnen gewiß noch immer nach, doch diesmal würde es selbst dem Raffer, wenn er den Einsturz der Brücke am Pykon überlebt hatte, unmöglich sein, ihnen wieder auf die Spur zu kommen.

Nach einer Weile lenkte Perk den Riesenvogel zu einem baumlosen Hochplateau über einem funkelnden Bergsee. Der Rock landete ruhig und sicher wieder auf festem Boden, und seine Reiter stiegen ab. Perk sprang flink und behende vom Rücken des Vogels, während Wil und Amberle sich mit steifen, ungelenken Bewegungen herunterließen. Auf ihren Gesichtern stand tiefe Erleichterung.

Eine halbe Stunde rasteten sie auf dem Plateau, dann kletterten sie wieder auf Genewens Rücken, und der Flug ging weiter, immer in westlicher Richtung. Noch zweimal machten sie im Laufe des Morgens Rast, und jedesmal erbot sich Perk, Essen und Trinken mit seinen neuen Freunden zu teilen. Doch diese lehnten ab. Nur ein weiteres Stück von der geheimnisvollen braunen Wurzel nahmen sie gern entgegen. Perk versagte sich einen Kommentar. Ihm war es genauso gegangen, als er das erste Mal geflogen war.

Am späten Morgen erreichten sie den Ostrand des Wildewalds. Von Genewens Rücken aus konnten sie das ganze Tal überblicken, eine schier undurchdringliche Wildnis aus dichtem Wald und struppigem Dickicht, eingeschlossen von den Gipfeln des Steinkamms und des Irrybis-Gebirges und von der weiten, nebelverhangenen Einöde des Totenmoors. Ein unheimliches Gebiet war es, dicht überwuchert von Buschwerk und Gestrüpp, ein Auf und Ab von Talmulden und Hügelkämmen, von Sümpfen durchzogen. Hier und da ragten einsame Felsspitzen auf, die aus dem grünen Meer der Bäume emporstießen wie himmelsuchende Arme. Nirgends waren Anzeichen menschlicher Besiedlung auszumachen; es gab keine Dörfer, keine Einödhöfe, keine bebauten Äcker, kein grasendes Vieh. Das ganze Tal war eine einzige Wildnis, finster und bedrohlich. Wil und Amberle blickten voll Bangnis hinunter.

Nun aber steuerte Perk den Vogel wieder in den Schatten der Berge hinein, und der Wildewald verschwand hinter den Gipfeln. Ohne Pause flogen sie weiter bis kurz nach Mittag, als Perk Genewen wieder nach Süden wandte. Der Rock segelte durch eine schmale Kluft, und vor ihnen tauchte erneut der Wildewald auf. Sie flogen direkt darauf zu, indem sie dem Gefälle einer langen Geröllhalde folgten, die bis zum oberen Rand der Talmulde reichte. Dort schwenkte Genewen nach rechts ab und landete wenig später im Schutz einiger Tannen auf einem weiten Hang, der Blick auf den Wildewald bot.

Vorsichtig kletterten Wil und Amberle vom Rücken des Rock und rieben sich die Muskeln, die vom langen Flug ganz verkrampft waren. Nachdem Perk seinem Riesenvogel rasch einen Befehl erteilt hatte, folgte er seinen beiden Freunden. Seine Augen blitzten.

»Seht ihr! Wir haben es geschafft!« Er strahlte über das ganze Gesicht.

»Ja, tatsächlich.« Wil lächelte ungläubig.

»Und was tun wir jetzt?« erkundigte der Junge sich eifrig.

Mit einem dankbaren Lächeln richtete Wil sich auf.

»Du tust jetzt gar nichts mehr, Perk. Hier ist für dich das Ende des Wegs.«

»Aber ich möchte euch helfen«, beharrte Perk.

Amberle trat zu ihm und legte ihm den Arm um die Schultern.

»Du hast uns schon sehr geholfen, Perk. Ohne dich wären wir nicht so weit gekommen.«