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»Glaubst du, daß sich dort etwas findet — oder vielleicht in den alten Weltkarten?« fragte Andor zweifelnd.

»Nein. Es ist lange her, daß ich sie studiert habe, aber ich kann mich an nichts erinnern. Dennoch, was sonst können wir tun? Eine Chance, den Blutfeuer-Brunnen zu finden, haben wir nur, wenn wir mehr wissen als das, was Lauren uns mitzuteilen in der Lage war.«

Er nickte seinem Sohn zu, zum Zeichen, daß auch er nunmehr entlassen war. Andor eilte zu Lauren hinaus, um mit ihm zusammen in die Gärten des Lebens zurückzukehren, wo die anderen Erwählten ihrer harrten. Dort würde er versuchen, Genaueres über das geheimnisvolle Sichermal zu erfahren. Zwar schien ihm die Hoffnung gering, doch — wie sein Vater gesagt hatte — was sonst konnten sie tun?

4

Der Sommertag erlosch in einem leuchtenden Feuerwerk, das den westlichen Himmel in goldenes Rot und zartes Lavendel tauchte. Minutenlang hing die Sonne in strahlender Pracht über den Felsgipfeln des Grimmzacken-Gebirges, warf ihr Licht über die Wipfel der Wälder von Westland und wob zarte Gespinste von Schatten, die sich sanft und leicht über die bewaldete Erde senkten. Langsam kühlte sich die Luft ab, und die Hitze des Nachmittags verflog, als ein leichter Abendwind seufzend durch die mächtigen, stillen Bäume strich. Das Tageslicht verblich, die hereinbrechende Nacht raubte dem Himmel die Farbe. Die Bewohner der Elfenstadt Arborlon wanderten müde ihren Häusern zu. In den Gärten des Lebens stand Andor Elessedil und blickte stumm zu dem Ellcrys auf. Im grauen Licht des Abends schien der mächtige Baum unverändert, kräftig und gesund. Doch der Anblick täuschte. Vor Sonnenuntergang waren die Male der Krankheit, die den großen Baum zerstörten, deutlich sichtbar gewesen. Die Krankheit breitete sich rasch aus. An mehreren kleineren Ästen fraß die Fäule schon an der silberweißen Borke. Breite Blätterbüschel hingen schlaff und ausgedörrt herunter, das tiefe leuchtende Rot nun in ein stumpfes Schwarz verändert. Die Erwählten hatten die Rinde des Stammes sorgfältig mit Kräuterbalsam eingerieben und die kranken Blätter abgezupft, in der Hoffnung, daß die Krankheit sich eindämmen lassen würde. Obwohl sie ahnten, daß ihre Mühe vergebens war. Andor hatte die Wahrheit in ihren Augen erkannt. Sie konnten den Ellcrys nicht heilen. Niemand vermochte den Baum zu retten. Er starb, und es gab kein Mittel, sein Sterben zu verhindern. Andor seufzte und wandte sich ab. Er wußte selbst nicht recht, warum er zu dieser späten Stunde noch einmal in die Gärten des Lebens zurückgekehrt war. Die Erwählten hatten sich schon längst in ihr Nachtlager zurückgezogen, müde und entmutigt, schweigsam im Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Er war dennoch noch einmal zurückgekehrt, getrieben von der unvernünftigen Hoffnung, daß sich die Antworten, nach denen sie so verzweifelt forschten, vielleicht doch in der Nähe des Baumes finden lassen würden. Doch Andor war ohne Antwort geblieben, und jetzt, da die Nacht hereinbrach, hatte es wenig Sinn, noch länger auszuharren. Er fühlte die Blicke der Schwarzen Wachen in seinem Rücken, als er durch das Tor aus dem Garten hinausschritt. Sie ahnten nichts von der Krankheit des Baumes, doch sie spürten zweifellos, daß etwas nicht in Ordnung war. Das hatte ihnen das merkwürdige Verhalten der Erwählten auf jeden Fall verraten. Bald, dachte er, würde es sich herumsprechen — Gerüchte würden wachsen. Nicht mehr lange und man würde den Leuten die Wahrheit sagen müssen.

Im Augenblick jedoch war alles still. Hier und dort erloschen schon die ersten Lichter, Fenster verdunkelten sich, als die Bewohner der Häuser sich zum Schlaf niederlegten. Er beneidete sie. Es bestand kaum eine Aussicht, daß er — oder der König — in dieser Nacht Schlaf finden würde.

Wieder seufzte er. Hätte er doch seinem Vater nur irgendwie helfen können! Stets war Eventine sich seiner Sache so sicher gewesen, stets ruhig und gelassen im Vertrauen darauf, daß sich für jedes Problem eine Lösung finden ließ. Nun aber, nach zwei Besuchen von Andor, in denen dieser ihm nur Mißerfolge hatte melden können, erweckte der König den Eindruck, als habe er sich völlig in sich selbst zurückgezogen. Er hatte sich halbherzig bemüht, seinen Sohn nichts merken zu lassen, doch es war offensichtlich, wie verzweifelt er war und nur noch auf die Zerstörung all dessen wartete, worum er sein Leben lang sich gemüht hatte. Er sah sich vor eine Herausforderung gestellt, mit der er nicht fertig werden konnte. Kaum ein Wort wechselte er mit seinem Sohn, bis er ihn mit dem Auftrag wieder aussandte, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um doch noch Genaueres zu erfahren.

Das Unterfangen hatte sich als sinnlos erwiesen. Jeden einzelnen der Erwählten hatte Andor befragt, hatte sie dann alle gemeinsam um sich versammelt und nochmals ins Verhör genommen, um auf diesem Weg vielleicht auf einen Hinweis zu stoßen, der zum Sichermal führen würde. Doch er hatte nichts Neues erfahren.

Und auch ein Studium der sorgfältig aufbewahrten Aufzeichnungen ihres Ordens hatte nichts erbracht. Er hatte geschichtliche Zeugnisse durchgesehen, die Jahrhunderte alt waren, hatte geprüft und wieder geprüft. Wiederholt war er auf Hinweise auf das heilige Blutfeuer gestoßen, den Lebensquell ihrer Welt und alles Lebendigen auf ihr. Nirgends jedoch wurde jener geheimnisvolle Ort namens Sichermal erwähnt.

Und auch der Ellcrys selbst hatte ihnen nicht mehr weitergeholfen. Auf Andors Vorschlag waren die Erwählten noch einmal zu dem Baum gegangen, erst einzeln, dann gemeinsam, und hatten ihn angefleht, ihnen deutlichere Hinweise zu geben, damit sie seine Bilder verstehen könnten. Doch er sprach nicht zu ihnen. Er blieb stumm.

Als Andor sich dem Haus der Erwählten näherte, bemerkte er, daß die Lichter schon alle gelöscht waren. Offenbar hatte die tägliche Gewohnheit ihren Tribut gefordert, und die jungen Männer hatten sich zur üblichen Zeit, kurz nach dem Abendbrot, in ihre Schlafgemächer zurückgezogen. Er hoffte, sie würden im Schlaf Trost und Erleichterung finden.

Einem Fußpfad folgend, der zum Herrenhaus führte, eilte er lautlos an dem Haus vorüber, um seinem Vater einen letzten Bericht zu bringen, als ein dunkler Schatten unter einem niedrigen Baum neben dem Pfad hervortrat.

»Herr?«

»Lauren?« fragte er zurück. Als die Gestalt näher kam, erkannte er tatsächlich den jungen Elf. »Warum schläfst du denn noch nicht?«

»Ich habe es versucht, aber ich fand keinen Schlaf. Ich — ich sah Euch zu den Gärten hinaufgehen und hoffte, daß Ihr auf diesem Weg zurückkommen würdet. Prinz Andor, kann ich einen Augenblick mit Euch sprechen?«

»Aber du sprichst ja schon mit mir, Lauren«, versetzte Andor. Doch die scherzhaft gemeinte Bemerkung konnte den anderen nicht aufheitern. »Ist dir noch etwas eingefallen?«

»Ja, vielleicht. Es geht nicht um das, was der Ellcrys uns mitgeteilt hat; es ist etwas anderes, aber ich glaube, Ihr solltet es wissen. Darf ich Euch ein Stück des Wegs begleiten?«

Andor nickte zustimmend. Sie entfernten sich langsamen Schrittes vom Haus der Erwählten.

»Ich habe das Gefühl, als mußte ich dieses Problem lösen«, begann Lauren nach einer geraumen Weile des Schweigens. »Vielleicht kommt es daher, daß der Ellcrys zuerst zu mir gesprochen hat; es scheint mir jedenfalls so, als sei ich persönlich verpflichtet, Sichermal zu finden. Ich weiß, daß ich mir wahrscheinlich selbst damit zu hohe Bedeutung beimesse, aber das Gefühl bleibt trotzdem. Und auf keinen Fall möchte ich irgend etwas übersehen.« Er warf dem Prinzen einen Blick zu. »Könnt Ihr verstehen, was ich meine?«

»Ja, ich glaube schon. Haben wir denn etwas übersehen?«

»Ja, also mir ist etwas eingefallen. Und irgend jemandem wollte ich es wenigstens sagen.«

Andor verhielt den Schritt und sah den jungen Elf an.