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»Dem König wollte ich davon nichts sagen.« Laurens Unbehagen wuchs. »Und zu den anderen auch nicht. Ich bin mir nicht sicher, wieviel sie eigentlich wissen — und wir sprechen nie von ihr…«

Seine Stimme verhallte in der Stille der Nacht. Andor wartete geduldig.

»Ich meine Amberle. Nach ihrer Erwählung hat sie viele Male mit dem Ellcrys gesprochen — es waren lange Gespräche.« Die Worte kamen langsam. »Bei ihr war alles ganz anders als bei uns. Ich weiß nicht, ob sie sich dessen je bewußt war. Wir haben eigentlich nie darüber gesprochen …«

Andor war mit einer heftigen Bewegung hochgefahren. Lauren fühlte die Reaktion und sprach eilig weiter.

»Vielleicht würde der Ellcrys wieder zu ihr sprechen. Vielleicht verstünde sie seine Botschaft auch besser. Es könnte doch möglich sein, daß sie von ihm etwas erfährt, was uns nicht zugänglich ist.«

Diesen Worten folgte ein langes Schweigen, während die beiden Männer einander stumm anblickten. Dann schüttelte Andor bekümmert sein Haupt.

»Amberle kann uns nicht helfen, Lauren. Sie hat uns verlassen. Nicht einmal ihre Mutter weiß, wohin sie gegangen ist. Wir haben keine Möglichkeit, sie so rasch zu finden, daß sie uns noch helfen könnte.«

Der junge Elf nickte bedrückt, während der letzte Hoffnungsschimmer auf seinem Gesicht erlosch.

»Es war nur so ein Gedanke«, sagte er schließlich und wandte sich zurück zum Haus. »Gute Nacht, Prinz Andor.«

»Gute Nacht, Lauren. Dank dir, daß du dich mir anvertraut hast.«

Noch einmal nickte der junge Mann, bevor er auf dem Fußpfad davonschritt. Seine weißen Gewänder raschelten leise, als die Dunkelheit der Nacht ihn aufnahm.

Das dunkle Gesicht gezeichnet von quälender Unruhe, blickte Andor ihm eine Weile nach. Alles, hatte sein Vater gesagt, auch das scheinbar Nichtigste sollte er erkunden, was vielleicht einen Hinweis darauf zuließ, wo Sichermal zu finden war. Doch es gab ja keine Hoffnung, Amberle aufzuspüren. Überall in den vier Ländern konnte sie sich aufhalten. Und dies war kaum der Zeitpunkt, Eventine an sie zu erinnern. Sie war sein Liebling gewesen, ihre Erwählung durch den Ellcrys hatte ihn mit Stolz und Freude erfüllt. Ihr Verrat an der ihr anvertrauten Aufgabe war für ihn viel schwerer zu ertragen gewesen als selbst der Tod ihres Vaters Aine.

Mutlos setzte Andor schweren Schrittes seinen Weg zum Herrensitz fort.

Gael tat noch immer Dienst. Sein Gesicht war grau vor Müdigkeit, seine Augen blickten sorgenvoll. Es war nicht zu vermeiden gewesen, daß er von dem drohenden Unheil erfahren hatte, das sie irgendwie abwenden mußten, doch man konnte sich darauf verlassen, daß er Stillschweigen darüber bewahrte. Er wollte aufspringen, als er des Prinzen ansichtig wurde, doch auf eine Geste von Andor ließ er sich wieder zurücksinken.

»Der König erwartet Euch«, meldete er. »Er ist in seinem Studierzimmer und lehnt es ab, sich schlafen zu legen. Wenn Ihr ihn überreden könntet, wenigstens ein paar Stunden lang zu ruhen…«

»Ich will sehen, was ich tun kann«, gab Andor bedrückt zurück.

Eventine Elessedil blickte auf, als sein Sohn das Studierzimmer betrat. Nur flüchtig forschten seine Augen in Andors Gesicht, lasen dort Enttäuschung und Mißerfolg. Dann schob er seinen Stuhl von dem Lesepult zurück, an dem er gesessen hatte, und rieb sich die müden Augen. Er erhob sich, streckte sich und schritt langsam zum Fenster. Durch die schweren Falten der Vorhänge spähte er hinaus in die Dunkelheit.

Auf dem mit Büchern beladenen Tisch stand unbeachtet ein Tablett mit unberührten Speisen. Die Kerzen waren weit heruntergebrannt; ihr Wachs tropfte auf das glänzende Silber. Es war still in dem düsteren kleinen Raum; die Eichenregale und die mit Teppichen behangenen Wände bildeten einen Hintergrund aus verblichenen Farben und flackernden Schatten. In Stapeln lagen überall die Bücher, die Gael im Laufe des Tages aus dem Kellergewölbe herauf geschleppt hatte.

Der König wandte sich um und sah seinen Sohn an.

»Nichts?«

Andor schüttelte stumm den Kopf. Eventines Gesicht verriet gleichfalls Enttäuschung.

»Ich habe auch nichts gefunden.« Er zuckte die Schultern und wies auf das Buch, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag. »Die letzte Hoffnung. Es enthält einen einzigen Hinweis auf das Samenkorn des Ellcrys und auf das Blutfeuer. Lies ihn selbst.«

Das Buch war einer der mehr als hundert Bände geschichtlicher Aufzeichnungen, die von den Elfenkönigen und ihren Schreibern seit den Tagen, in die sich Mythen und Legende verloren, geführt wurden. Es waren abgegriffene, alte Folianten mit schönen, sorgfältig gearbeiteten Einbänden aus Leder und Messing, in Hüllen eingeschlagen, die sie vor der Abnutzung durch die Zeit schützen sollten. Sie hatten die Großen Kriege überdauert sowie die Zerstörung der alten Menschenrasse. Sie hatten den ersten und den zweiten Krieg der Rassen überstanden. Sie hatten die Jahrhunderte von Leben und Tod überlebt, von deren Ereignissen sie Kunde überlieferten. Chroniken mit Tausenden und Abertausenden von Seiten, enthielten sie die vollständige, ihnen bekannte Geschichte des Elfenvolkes.

Andor beugte sich über das aufgeschlagene Buch; die Tinte hatte sich im Lauf der langen Zeit bräunlich verfärbt, altertümliche Schriftzeichen blickten ihn an. Doch die Worte waren klar und leicht zu enträtseln.

›Dann soll das eine Samenkorn jenem übergeben werden, der auserkoren ist. Und dieser soll das Samenkorn zu den Kammern des Blutfeuers tragen, wo es ins Feuer eingetaucht werden soll, um dann der Erde zurückgegeben zu werden. Darauf wird der Baum wiedergeboren werden, und der große Bann der Verfemung wird ewig währen. Also sprach der Hochzauberer zu seinen Elfen im Augenblicke seines Todes, auf daß dieses Wissen seinem Volk nicht verlorenginge.‹

Eventine nickte, als Andor wieder aufblickte.

»Ich habe jedes einzelne dieser Bücher durchgesehen und jeden Absatz, der in Betracht kam, genauestens studiert. Es gibt noch andere Hinweise — aber nirgends steht mehr als in dem Schriftsatz, den du soeben gelesen hast.«

Er begab sich zurück an das Lesepult und blieb dort stehen, während seine Finger zerstreut über die goldgeränderten Seiten strichen.

»Das hier ist das älteste Buch. In ihm steht vieles, was vielleicht nur in das Reich des Mythos fällt. Die Geschichte von dem gnadenlosen Kampf zwischen den guten und den bösen Mächten, die Namen der Helden, alle Einzelheiten, die zum Bannspruch führten. Aber nirgends wird das Wort Sichermal erwähnt, nirgends der Ort genannt, wo das Blutfeuer zu finden ist. Und es steht auch nichts über das Wesen der Zauberkraft darin, die den Ellcrys geschaffen und den Großen Bann verhängt hat.«

Das, dachte Andor, war nicht ungewöhnlich. Nur in Ausnahmefällen hatten die Alten die Geheimnisse ihrer Zauberkräfte schriftlich niedergelegt. Dieses kostbare Wissen wurde durch mündliche Überlieferung weitergegeben, damit es nicht den Feinden in die Hände fallen konnte. Und manche der Zauberkräfte sollten so mächtig sein, daß sie nur in einer ganz bestimmten Zeit und an einem ganz bestimmten Ort angewendet werden durften. Vielleicht hatte es auch diese Bewandtnis mit den magischen Kräften, die den Ellcrys geschaffen hatten.

Der König ließ sich wieder in seinen Sessel sinken, warf noch einen Blick in das alte Buch und schlug es dann wortlos zu.

»Wir werden uns eben auf das Wenige stützen müssen, was wir von dem Ellcrys erfahren haben«, sagte er leise. »Mit Hilfe dieser Kenntnisse müssen wir die Orte bestimmen, wo das Blutfeuer sich befinden kann, und dann jeden einzelnen aufsuchen.«

Andor nickte stumm. Es schien hoffnungslos. Es sprach kaum etwas dafür, daß sie Sichermal aufgrund dieser vagen Beschreibung jemals finden würden.

»Ich wollte, Arion wäre hier«, murmelte sein Vater unvermittelt.

Andor entgegnete darauf nichts. Er mußte sich eingestehen, daß der König guten Grund hatte, Arion herbeizuwünschen. Arion besaß die Führereigenschaften, die bei der Organisation und Leitung der Suchaktion vonnöten sein würden. Und seine Gegenwart hätte dem Vater einen gewissen Trost gespendet. Das war jedoch nicht der Zeitpunkt, dem Bruder dafür zu grollen.