Stumm starrte Andor Elessedil ihn mit großen Augen an, während die Hoffnung in seinen Augen langsam erlosch.
»Dies war von Anbeginn an ihr Plan, Elfenprinz — Euch hier am Baen Draw mit der kleineren Streitmacht zu binden, während das größere Heer im Norden die Kensrowe-Berge umrundete, um von hinten in das Sarandanon einzufallen und auf diese Weise das Elfenheer einzuschließen. Hättet Ihr die Kundschafter nicht ausgeschickt…«
Er ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen. Andor wollte etwas erwidern, aber er konnte kein Wort hervorbringen. Plötzlich standen Tränen in seinen Augen, Tränen des Zorns und der Entmutigung.
»All die Männer, die hier gefallen sind — hier und am Halys-Joch … Mein Bruder, Pindanon — alle fielen sie, um das Sarandanon zu halten … Können wir denn gar nichts tun?«
»Mit dem Heer, das aus Norden herunterkommt, nahen Dämonen, deren Kräfte alles, was Ihr bisher erlebt habt, bei weitem in den Schatten stellen.« Allanon schüttelte bedächtig den Kopf. »Ihre Kräfte, fürchte ich, sind zu übermächtig, als daß Ihr ihnen widerstehen könntet — ihre Zahl ist unübersehbar. Wenn Ihr noch länger versucht, das Sarandanon zu halten, wenn Ihr darauf beharrt, ihnen hier am Baen Draw entgegenzutreten, dann werdet Ihr bis auf den letzten Mann vernichtet werden.«
Andors jugendliches Gesicht war grau und trostlos.
»Dann ist das Sarandanon verloren.«
Allanon nickte langsam. Der Elfenprinz warf unwillkürlich einen Blick zum Nebenraum des Zelts, wo der König noch immer bewußtlos lag, in traumlosem Schlaf eingefangen, weit entfernt vom Schmerz und der Realität, die seinen Sohn quälten. Verloren! Das Grimmzacken-Gebirge, das Sarandonan, seine Familie, sein Heer — alles! Er hatte das Gefühl, in ihm bräche etwas. Allanons Hand umfaßte hart seine Schulter. Ohne den Kopf zu erheben, nickte er.
»Wir brechen sofort auf.«
Mit gesenktem Kopf schritt er aus dem Zelt, um den Befehl zu geben.
33
Wil Ohmsford fand den Wildewald so abschreckend und bedrohlich, wie man ihn ihm geschildert hatte. Obwohl die Sonne hell und leuchtend vom Himmel gestrahlt hatte, als er und Amberle vom Steinkamm aufgebrochen waren, lag der Wildewald in tiefen Schatten und dämmriger Finsternis, von der Welt abgeschlossen durch Bäume und Buschwerk, so verwildert und verwachsen, daß es in dem Wirrwarr keinen Anfang und kein Ende zu geben schien. Knorrig und gebeugt ragten die massigen Stämme in die Höhe, auf denen Moos und Flechten wuchsen, und ihre Zweige krümmten sich wie Spinnenbeine. Sie waren von schmarotzenden Kletterpflanzen überwuchert, und ihre dornigen Blätter schimmerten wie weißglühendes Silber. Dürres Holz und welkes Laub bedeckten den Talboden und verrotteten langsam auf der dunklen Erde, die unangenehm weich und schwammig unter den Füßen gluckste. Der Wildewald, feucht von Moder und Fäulnis, hatte etwas Mißratenes, Entstelltes, Unnatürliches an sich. Es war, als hätte die Natur das Land und das Leben, das auf ihm wuchs, verkrüppelt und gesunden Wachstums unfähig gemacht, so daß es auf immer den modrigen Todesgeruch atmen mußte, der aus seinem eigenen langsamen Sterben aufstieg. Aus vorsichtigen, ängstlichen Augen spähten Wil Ohmsford und Amberle Elessedil in die Finsternis rundum, während sie dem gewundenen Waldpfad folgten. Aus der Ferne hörten sie die nächtlichen Geräusche der Wesen, die im Dickicht des Waldes lauerten und jagten. Der Pfad war wie ein Tunnel, nur hier und dort von schwachen Lichtstrahlen erhellt, die irgendwie durch das Geschlinge der Äste eindrangen. Es gab keine Vögel in diesem Wald; das war Wil sogleich aufgefallen. Vögel würden niemals in solcher Finsternis leben, hatte Wil bei sich gedacht — jedenfalls nicht, solange sie die Möglichkeit hatten, im Sonnenlicht zu fliegen. Auch die anderen kleinen Tiere, die man sonst im Wald anzutreffen pflegte, fehlten; nicht einmal Schmetterlinge gab es. Die Wesen, die hier lebten, beließ man am besten in Finsternis, Nacht und Schatten: Fledermäuse mit ledrigen Flughäuten, Schlangen und gepanzerte Jäger, die sich von Ungeziefer nährten, das in stinkenden Tümpeln und schlammigen Sümpfen hauste; Katzenwesen, die flink und wendig auf lautlosen Pfoten durch das Gewirr der Bäume huschten. Einoder zweimal kreuzten ihre Schatten den Pfad, und Wil und Amberle verhielten ängstlich ihren Schritt. Doch so rasch wie sie aufgetaucht waren, verschwanden die Schatten wieder, verloren sich in der Schwärze des Dickichts, während die beiden Menschenkinder noch eine Weile mißtrauisch auf dem Pfad stehenblieben und dann weitereilten.
Einmal, als sie tief in den Dämmerschatten des Waldes eingedrungen waren, hörten sie das Rumoren irgendeines großen, massigen Wesens, das sich einen Weg zwischen den Bäumen bahnte und sogar die Äste so leicht knickte, als wären es dünne Zweiglein. Laut stieß sein schnaubender Atem durch die Stille. Es schien Wil und Amberle nicht zu sehen, während es da unsichtbar durch die Finsternis stampfte, vielleicht aber waren ihm die beiden kleinen Geschöpfe, die da zitternd auf dem Pfad standen, auch einfach nicht der Beachtung wert. Bedächtig schlurfte es davon. In der nachfolgenden Stille flohen Wil und Amberle wie von Furien gehetzt.
Nur wenigen Reisenden begegneten sie auf dem Weg durch den Wald. Alle außer einem waren sie zu Fuß unterwegs, und dieser eine hockte auf einer Schindermähre, die so mager und ausgezehrt war, daß sie eher wie eine Vision als wie ein Wesen aus Fleisch und Blut wirkte. In Umhänge und Kapuzen vermummt, schlichen die Reisenden einzeln oder in Paaren an ihnen vorüber, ohne ihnen einen Gruß zu bieten. Doch im Schutz ihrer Kapuzen wandten sie die Köpfe und blickten den beiden Eindringlingen mit dem kalten Interesse raubgieriger Katzen nach, als wollten sie den Zweck ihres Hierseins ergründen. Ein eiskaltes Gefühl der Angst beschlich die beiden unter diesen Blicken, und mehrmals sahen sie den vermummten Gestalten lange und furchtsam nach.
Die Sonne wollte schon untergehen, als sie endlich aus der Dunkelheit der Wildnis traten und vor sich den Ort Grimpen Ward erblickten, ein unfreundliches Dorf aus heruntergekommenen alten Holzhäusern, die so eng aneinandergepfercht lagen, daß man kaum das eine vom anderen unterscheiden konnte. Schäbig waren sie, diese Läden und Buden, diese Gasthäuser und Spelunken. Der grelle Anstrich ihrer Wände war verblichen und blätterte an vielen Stellen ab. Viele der ungepflegten Häuser waren vergittert und verriegelt, ihre Fenster durch Läden gesichert. Schlecht beschriftete Schilder mit Warenangeboten hingen an windschiefen Pfosten und über dunklen Türen. Durch Fenster und Türritzen fiel der flackernde Schein von Öllampen in die sich vertiefenden Schatten des Abends.
Die Bürger von Grimpen Ward saßen in den Gasthäusern und Schenken an rohgezimmerten Tischen und Theken vor Wein und Bier. Ihre Stimmen gröhlten laut und grob, ihr Gelächter schrill. Männer und Frauen aller Rassen mit harten Augen und kaltem Blick wanderten durch die Gassen, manche grell und bunt gekleidet, andere in Lumpen, manche frech und dreist im blendenden Schein des Lampenlichts, andere verstohlen im Schatten der Häuser. Viele bewegten sich schwankend und torkelnd, von Alkoholdünsten umgeben. Münzen klingelten und wechselten rasch den Besitzer, oft verstohlen oder unter Gewaltanwendung. Hier kauerte zusammengekrümmt eine schlaffe Gestalt in einer Türnische und schlief ihren Rausch aus, ohne schon zu ahnen, daß man Geld und Kleider gestohlen hatte. Dort lag einer verkrümmt in einem dunklen Durchgang, und das Lebensblut sickerte ihm aus einer Wunde am Hals. Überall strichen räudige, ausgehungerte Hunde umher, huschten gespenstisch durch die Schatten wie Geister.
Diebe und Halsabschneider, Huren und Schwindler, Händler, die Leben und Tod und falsches Vergnügen verkauften, der Abschaum des Gesindels. Wil Ohmsford spürte, wie sich ihm die Haare im Nacken sträubten. Perks Großvater hatte recht gehabt mit seiner Warnung vor Grimpen Ward.