Amberles Hand fest in der seinen, folgte er den ausgefahrenen Furchen der Straße, die sich zwischen den häßlichen Häusern hindurchzog. Was sollten sie jetzt tun? In den Wald zurück konnten sie nicht — nicht jetzt, da bald die Nacht hereinbrach. Er fürchtete sich davor, in Grimpen Ward zu bleiben, doch hatten sie überhaupt eine Wahl? Sie waren beide müde und hungrig, es war Tage her, seit sie das letzte Mal in einem Bett geschlafen oder eine heiße Mahlzeit zu sich genommen hatten. Die Chancen allerdings, daß sie eines dieser beiden Dinge ausgerechnet hier bekommen würden, schienen gering. Sie hatten beide kein Geld, um etwas zu kaufen, sie hatten nichts, was sie gegen Unterkunft und Verpflegung eintauschen konnten. Sie hatten alles auf ihrer Flucht aus dem Pykon verloren. Wil hatte geglaubt, daß sich im Ort jemand finden würde, bei dem sie sich mit Arbeit eine Mahlzeit und ein Bett verdienen könnten; aber was er hier rundum sah, ließ ihn vermuten, daß es so jemanden in diesem Ort gar nicht gab.
Ein betrunkener Gnom torkelte gegen ihn und hielt sich an seinem Umhang fest. Wil gab ihm einen hastigen Stoß. Der Gnom stolperte und fiel auf die Straße, wo er mit dümmlichem Lachen liegenblieb. Wil starrte einen Moment auf ihn hinunter, dann faßte er Amberle am Arm und eilte weiter.
Es stellten sich auch noch andere Probleme. Wenn sie Grimpen Ward wieder verließen, wie sollten sie sich dann weiter zurechtfinden? Wie sollte es ihnen gelingen, sich in der Wildnis da draußen nicht zu verirren? Sie brauchten unbedingt jemanden, der sie führen konnte, gab es aber in Grimpen Ward jemanden, dem sie vertrauen konnten? Wenn sie gezwungen sein sollten, weiterzumarschieren, ohne eine Ahnung zu haben, wohin ihr Weg führte, dann würde Wil die Elfensteine gebrauchen müssen — oder zumindest versuchen müssen sie zu gebrauchen —, noch bevor sie die unterirdischen Gänge von Sichermal und das Blutfeuer gefunden hatten, lange bevor sie nach Arborlon zurückkehren konnten. Und wenn er das tat, würde er den Dämonen verraten, wo sie sich befanden. Doch wenn sie keinen Führer hatten, und er die Steine nicht gebrauchte, dann hatten sie überhaupt keine Chance, Sichermahl zu finden — und wenn sie ein ganzes Jahr Zeit gehabt hätten.
Ratlos blieb Wil stehen und starrte unsicher auf die erleuchteten Fenster der Häuser. Es war eine beinahe aussichtslose Situation, und er wußte nicht, wie er sie meistern sollte.
»Wil.« Amberle zupfte ihn ängstlich am Ärmel. »Komm weg hier von dieser Straße.«
Wil warf ihr einen flüchtigen Blick zu und nickte. Immer alles schön der Reihe nach, dachte er. Zunächst mußten sie eine Unterkunft für die Nacht finden; und sie brauchten etwas zu essen. Alles übrige konnten sie später bedenken.
Hand in Hand mit Amberle lief er weiter und musterte die Gasthäuser zu beiden Seiten der Straße. Nach etwa fünfzig Schritten gewahrte er eine kleine zweistöckige Herberge, die, etwas zurückgesetzt von anderen Gebäuden, im Schatten einiger Fichten stand. In den Fenstern des Erdgeschosses flackerte Licht, während das obere Geschoß im Dunkeln lag. Hier waren die Stimmen nicht so trunken laut, das Gelächter nicht so schrill, die Zahl der Gäste war klein.
Wil eilte durch den Hof vor dem Gasthaus und spähte durch das verschmierte Glas eines der Fenster in den Gastraum. Alles schien ruhig. Er blickte auf. Auf dem Schild am Torpfosten stand, daß dies das Gasthaus zum Mond war. Er zögerte noch einen Augenblick, dann faßte er seinen Entschluß. Aufmunternd nickte er Amberle zu, deren Miene tiefe Zweifel verriet, und führte sie durch das Tor. Die Tür des Gasthauses stand offen, um die milde Luft der Sommernacht in den Schankraum einzulassen.
»Zieh dir die Kapuze tief ins Gesicht«, flüsterte Wil plötzlich, und als sie ihn verständnislos anstarrte, tat er es für sie. Mit einem Lächeln, das von seiner eigenen Unsicherheit nichts verriet, nahm er dann ihre Hand und trat in das Gasthaus.
Der Gastraum war nicht sonderlich groß, und die Luft war schwer vomRauch der Öllampen und Tabakspfeifen. Vorn war eine kurze Theke, an der sich eine Gruppe grober Männer und Frauen drängte. Im Hintergrund des Raums standen mehrere Tische, nicht alle besetzt. Türen führten aus diesem Raum zu anderen Teilen des Hauses, und eine Treppe schwang sich auf der linken Seite nach oben und mündete in Finsternis. Die Bodendielen waren rissig und abgetreten, und in den Ecken hingen Spinnweben von der Decke. Neben der Haupttür nagte ein alter Jagdhund zufrieden an einem Knochen.
Wil führte Amberle zu einem kleinen Tisch, auf dem eine dicke Kerze stand, und sie setzten sich. Ein paar Köpfe drehten sich, als sie vorübergingen, doch die Neugierigen verloren rasch das Interesse.
»Was tun wir hier?« fragte Amberle bang.
Wil schüttelte den Kopf. »Nur Geduld.«
Wenig später näherte sich eine wenig freundlich aussehende Frau ungewissen Alters schlürfend ihrem Tisch. Über einem Arm trug sie ein schmuddeliges Geschirrtuch. Als sie näher kam, bemerkte Wil, daß sie stark hinkte. Er glaubte die Ursache dieses Hinkens zu erkennen, und der Keim einer Idee regte sich in seinem Hirn.
»Etwas zu trinken?« fragte die Frau.
Wil lächelte freundlich. »Zwei Gläser Bier.«
Die Frau humpelte ohne Kommentar davon. Wil blickte ihr nach.
»Ich mag gar kein Bier«, protestierte Amberle. »Was soll das alles?«
»Ich gebe mich umgänglich. Ist dir aufgefallen, daß diese Frau hinkt?«
Amberle starrte ihn entgeistert an.
»Was soll das denn nun wieder heißen?«
Wil lächelte. »Du wirst schon sehen.«
Eine Weile saßen sie schweigend am Tisch, dann brachte die Frau die Krüge mit dem Bier. Sie stellte sie auf den Tisch und trat einen Schritt zurück, wobei sie sich mit ihrer fleischigen Hand über das zerzauste, von Grau gesträhnte Haar fuhr.
»Ist das alles?«
»Habt Ihr vielleicht etwas zu essen übrig?« erkundigte sich Wil und trank einen Schluck von seinem Bier.
Amberle rührte ihr Glas gar nicht an.
»Eintopf, Brot, Käse, vielleicht auch Kuchen — er ist ganz frisch aus dem Ofen.«
»Hm. Ein heißer Tag zum Backen.«
»Das kann man sagen. Und vergebene Liebesmüh ist es dazu. Keiner will was davon.«
Wil schüttelte teilnahmsvoll den Kopf.
»Das ist aber schade.«
»Die meisten trinken lieber«, meinte die beleibte Frau mit einem spöttischen Lachen. »Würd’ ich wahrscheinlich auch lieber tun, wenn ich die Zeit hätte.«
Wil grinste. »Ja, kann schon sein. Führt Ihr das Gasthaus ganz allein?«
»Mit meinen Söhnen zusammen.« Sie wurde etwas freundlicher und verschränkte die Arme auf ihrer Brust. »Der Mann ist mir auf und davon. Die Jungs helfen mir, wenn sie nicht grade trinken oder spielen — was selten ist. Ich würd’s allein leicht schaffen, wenn das verflixte Bein nicht wär. Die Schmerzen, die hören überhaupt nicht auf.«
»Habt Ihres schon einmal mit Wärme versucht ?«
»Gewiß. Ein bißchen hilft das schon.«
» Kräutersalben ? «
Sie spie aus. »Taugenichts.«
»Ja, das ist ein schwieriges Problem. Wie lange geht das denn schon?«
»Ach, Jahre. Ich zähl’ schon gar nicht mehr. Vom Grübeln wird’s auch nicht besser.«
»Hm.« Wil machte ein nachdenkliches Gesicht. »Das Essen klingt verlockend. Ich denke, wir werden den Eintopf mal versuchen.«
Die Wirtin des Gasthauses zum Mond nickte und humpelte wieder davon. Hastig beugte Amberle sich vor.
»Wie willst du das alles bezahlen? Wir haben doch gar kein Geld.«
»Das weiß ich«, entgegnete Wil. »Aber ich glaube, wir werden gar keins brauchen.«
Amberle machte ein Gesicht, als wolle sie ihm eine Ohrfeige geben.
»Du hast mir versprochen, daß du das nicht wieder tust. Du hast versprochen, daß du erst mit mir redest, wenn du was vor hast — weißt du noch? Das letzte Mal, als du so geheimnisvoll getan hast, bei den Fahrensleuten, hätte es uns beinahe das Leben gekostet. Und diese Leute hier sehen nicht ungefährlicher aus als die Fahrensleute.«