»Ich weiß, ich weiß, aber es ist mir eben erst eingefallen. Wir müssen was zu essen haben, und ein Bett brauchen wir auch, und das hier scheint mir unsere beste Chance zu sein.«
Amberles Gesicht im Schatten der Kapuze verzog sich ängstlich.
»Mir ist dieses Gasthaus nicht geheuer, Wil Ohmsford — das Gasthaus nicht, das Dorf nicht, die Leute nicht. Wir könnten doch auch ohne Nachtlager und ohne Essen auskommen.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ja, das könnten wir, aber werden’s nicht tun. Pscht — sie kommt wieder.«
Die Frau war mit ihrem Nachtmahl zurückgekommen. Sie stellte die dampfenden Teller vor ihnen auf den Tisch und wollte gerade wieder gehen, als Wil sie ansprach.
»Bleibt einen Augenblick«, bat er. Die Wirtin wandte sich um. »Ich hab’ mir das mit Eurem Bein durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht kann ich Euch helfen.«
Argwöhnisch sah sie ihn an.
»Was meint Ihr damit ?«
Er zuckte die Schultern.
»Nun, ich glaube, ich kann den Schmerz lindern.«
Der Ausdruck des Argwohns vertiefte sich.
»Und warum wollt Ihr das für mich tun ?«
Wil lächelte. »Geschäft. Geld.«
»Ich hab’ nicht viel Geld.«
»Wie wär’s dann mit einem Tausch? Gegen das Nachtmahl, das Bier und ein Nachtlager nehme ich Euch den Schmerz. Einverstanden?«
»Einverstanden.« Schwerfällig ließ sie sich auf den Stuhl neben ihm fallen. »Aber wie schafft Ihr das überhaupt ?«
»Bringt mir eine Tasse heißen Tee heraus und ein sauberes Tuch, dann werden wir schon sehen.«
Augenblicklich sprang die Frau auf und schlürfte humpelnd in die Küche. Mit einem schwachen Lächeln sah Wil ihr nach. Amberle schüttelte den Kopf.
»Ich hoffe nur, du weißt, was du tust.«
»Ja, das hoffe ich auch. Jetzt iß schon, für den Fall, daß ich es doch nicht weiß.«
Als die Frau mit dem Tee und dem Tuch zurückkam, hatten sie ihr Nachtmahl fast verzehrt. Wil blickte an ihr vorbei zu den Gästen an der Theke. Schon drehten sich einige Köpfe nach ihnen um. Keinesfalls, dachte er, wollte er noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er blickte zu der Frau auf und lächelte.
»Das sollten wir aber nicht hier in aller Öffentlichkeit bewerkstelligen . Können wir uns irgendwo zurückziehen? «
Mit einem gleichgültigen Achselzucken führte die Frau Wil und Amberle durch eine der Türen in einen kleinen Raum, in dem nur ein Tisch mit sechs Stühlen stand. Sie entzündete die Kerze auf dem Tisch und schloß die Tür. Die drei setzten sich.
»Was geschieht jetzt?« fragte die Frau.
Wil nahm aus einem Beutel, der an seinem Gürtel hing, ein dürres Blatt und zerkrümelte es zu Staub, den er in den Tee fallen ließ.
Nachdem er gründlich umgerührt hatte, reichte er die Tasse der Frau.
»Trinkt das. Es wird Euch ein wenig schläfrig machen, aber nicht mehr.«
Die Frau blickte einen Moment lang in das dunkle Gebräu, dann trank sie es. Als die Tasse leer war, nahm Wil sie ihr ab und ließ ein anderes Blatt hineinfallen und goß etwas Bier aus seinem Glas darüber. Dieses Gemisch rührte er gemächlich um, bis das Blatt sich völlig aufgelöst hatte. Amberle, die ihm am Tisch gegenübersaß, schüttelte den Kopf.
»Legt Euer Bein da auf den Hocker«, befahl Wil, und die Frau gehorchte. »Jetzt zieht den Rock hoch.«
Die Wirtin warf ihm einen fragenden Blick zu, als hätte sie Zweifel an seinen Absichten, dann lupfte sie ihren Rock bis zum Oberschenkel. Das Bein war voller Knoten und mit dunklen Flecken bedeckt. Wil tauchte das Tuch in die Flüssigkeit in der Tasse und rieb das Bein damit ab.
»Das prickelt ein bißchen.« Die Frau kicherte.
Wil lächelte ermutigend. Als die Tasse wiederum leer war, griff er nochmals in den Beutel und zog eine lange silberne Nadel mit abgerundetem Kopf hervor. Erschreckt beugte die Frau sich vor.
»Ihr werdet mir das Ding doch nicht ins Fleisch stechen ?«
Wil nickte ungerührt.
»Doch, Ihr werdet gar nichts spüren, es tut nicht weh.« Langsam schob er die Nadel durch die Flamme der Kerze, die in der Mitte ihres Tisches brannte. »Haltet Euch jetzt ganz still«, befahl er.
Sehr behutsam senkte er die Nadel oberhalb des Kniegelenkes in das Bein der Frau, bis nur noch der abgerundete Kopf sichtbar war. Er ließ sie eine Zeitlang stecken, dann zog er sie wieder heraus. Die Frau verzog das Gesicht, schloß die Augen und öffnete sie dann wieder. Sie lehnte sich zurück.
»Fertig«, verkündete er und hoffte, daß die Behandlung gewirkt hatte. »Steht auf und geht ein bißchen herum.«
Die Frau starrte ihn verdutzt an, dann schob sie entrüstet ihren Rock runter und stand auf. Vorsichtig trat sie ein paar Schritte vom Tisch weg und verlagerte probeweise ihr Gewicht auf das kranke Bein. Dann wirbelte sie plötzlich mit einem Ruck herum, und ein breites Grinsen ging über ihr grobes Gesicht.
»Er ist weg! Der Schmerz ist weg! Das erste Mal seit Monaten!« Sie lachte aufgeregt. »Ich kann es nicht glauben. Wie habt Ihr das nur gemacht ? «
»Zauberei.« Wil grinste zufrieden und wünschte gleich darauf, er hätte das nicht gesagt. Amberle schoß einen ärgerlichen Blick auf ihn ab. »Zauberei, wie?« Die Frau machte noch ein paar Schritte und schüttelte den Kopf. »Nun, wenn Ihr es sagt. Es fühlt sich wahrlich so an. Überhaupt keine Schmerzen.«
»Nun, Zauberei war es natürlich nicht…« begann Wil, doch die Frau war schon auf dem Weg zur Tür. »Ich fühle mich so glänzend, daß ich jetzt alle Gäste auf ein Glas einlade.« Sie öffnete die Tür und ging hinaus. »Die Gesichter möcht’ ich sehen, wenn ich ihnen das erzähle.«
»Nein, wartet —!« rief Wil ihr nach, doch sie hatte die Tür schon hinter sich zugezogen. »Verdammt«, murmelte er und wünschte allzu spät, er hätte ihr das Versprechen abgenommen, nichts über die Behandlung zu erzählen.
Amberle faltete die Hände und sah ihn fragend an.
»Wie hast du es wirklich gemacht? «
Er zuckte die Schultern.
»Ich bin ein Heilkundiger, das weißt du doch. Die Stors haben mich einiges gelehrt.« Mit Verschwörermiene neigte er sich zu ihr hinüber. »Der Haken ist nur, daß die Behandlung nicht von Dauer ist.«
»Nicht von Dauer!« Amberle war entsetzt.
Wil drückte einen Finger auf die Lippen.
»Sie wirkt nur vorübergehend. Morgen früh sind die Schmerzen wieder da. Dann müssen wir also weg sein.«
»Wil, du hast diese Frau betrogen«, rief Amberle empört. »Du hast behauptet, du würdest sie heilen.«
»Nein, so habe ich mich nicht ausgedrückt. Ich habe gesagt, ich könne ihr den Schmerz nehmen. Ich habe nichts darüber gesagt, wie lange. Eine schmerzfreie Nacht für sie und ein Bett und ein Nachtmahl für uns. Ein reelles Geschäft.«
Amberle sah ihn vorwurfsvoll an und erwiderte nichts.
Wil seufzte. »Wenn es dir ein Trost ist, der Schmerz wird nicht mehr so schlimm werden, wie er vorher war. Aber das, woran sie leidet, kann kein Heilkundiger kurieren; es hat mit dem Leben zu tun, das sie führt in ihrem Alter, mit ihrem Gewicht — mit einer Menge anderer Dinge, auf die ich keinen Einfluß habe. Ich habe für sie getan, was ich konnte. Würdest du also bitte vernünftig sein!«
»Kannst du ihr etwas geben, was sie einnehmen kann, wenn der Schmerz wiederkommt?«
Wil beugte sich über den Tisch und nahm ihre Hände.
»Du bist wirklich eine liebevolle kleine Person, weißt du das? Gegen den Schmerz kann ich ihr etwas geben. Aber das lassen wir einfach zurück, wenn wir morgen früh verschwinden.«
Plötzliches Getöse im anderen Raum veranlaßte ihn aufzuspringen. Er eilte zur Tür und zog sie einen Spalt auf. Vorher war das Gasthaus beinahe leer gewesen. Jetzt drängten sich die Leute von der Straße herein, angelockt von dem Versprechen auf Freibier und den marktschreierischen Reden der Wirtin, die triumphierend ihre neugefundene Kur pries.
»Zeit, daß wir verschwinden«, murmelte Wil und führte Amberle eilig aus dem Zimmer.
Sie waren erst ein paar Schritte gegangen, als die Frau schrill hinter ihnen herrief und ihnen nacheilte, um sie aufzuhalten. Die Köpfe flogen herum, einige der Leute wiesen mit den Fingern auf Wil. Dem war das gar nicht angenehm.