Wil sprang eilig auf. In den Räumen über der Getreidehandlung flammte Licht auf. Ebenso in den umliegenden Häusern. In der Dunkelheit hinter ihnen flackerten Fackeln durch die Nacht. Laute, wütende Stimmen drangen jetzt von überall her. Wil nahm Amberle bei der Hand, und zusammen rannten sie am Koppelzaun entlang bis zu den Stallungen. Durch eine schmale Gasse, die zwischen zwei verbretterten Gebäuden hindurchführte, versuchten sie, zur Hauptstraße zurückzugelangen. Diese Gasse war finster, und beide liefen sie wie blind, Wil voraus. Vorn kam jetzt die Hauptstraße in Sicht.
»Wil!« rief Amberle warnend.
Zu spät. Die Augen des Talbewohners waren nicht so scharf wie die des Elfenmädchens. Blind stolperte er über einen Haufen loser Bretter, die mitten in der Gasse lagen. Er schwankte, stürzte, flog krachend gegen die Hauswand. Wilder Schmerz durchzuckte seinen Kopf; einen Moment lang verlor er das Bewußtsein. Dann stand er irgendwie schon wieder auf den Füßen und torkelte benommen vorwärts, während Amberles Stimme dumpf in seinen Ohren schallte. Er griff sich an die Stirn, und als er die Hand wieder senkte, sah er, daß sie voller Blut war.
Plötzlich war Amberle wieder an seiner Seite, und ihre Arme umschlossen ihn fest um die Hüfte. Seine Knie schlotterten, und er mußte sich auf sie stützen, während er sich zwang vorwärts zu taumeln, dem fernen Licht der Straße entgegen. Er spürte, daß er gleich wieder bewußtlos werden würde, und kämpfte dagegen an. Er mußte in Bewegung bleiben; er mußte wach bleiben. Amberle redete auf ihn ein. Ihre Stimme war drängend, aber er konnte die Worte nicht verstehen. Er kam sich vor wie ein Narr. Wie hatte ihm etwas so Dummes ausgerechnet jetzt passieren können ?
Torkelnd erreichten sie das Ende der Gasse und glitten in den Schatten einer Veranda. Amberle keuchte unter der Anstrengung, Wil auf den Beinen zu halten. Blut rann Wil in die Augen, so daß er bald überhaupt nichts mehr sah, und er brummte zornig vor sich hin.
Plötzlich hörte er, wie Amberle überrascht nach Luft schnappte. Durch die Schleier, die seine Augen verdunkelten, sah er ein Gewirr von Schatten aus der Dunkelheit auftauchen. Leise Stimmen waren zu vernehmen, ein warnendes Zischen. Dann war Amberle plötzlich fort, und er spürte, wie er hochgehoben wurde. Kräftige Hände trugen ihn rasch durch die Dunkelheit. Farbige Spiralen wirbelten vor seinen umwölkten Augen und mischten sich mit tanzendem Fackelschein. Wieder wurde erhochgehoben, durch eine schmale Öffnung geschoben wie in ein Zelt. Eine Öllampe flackerte neben ihm. Er hörte flüsternde Stimmen und spürte ein feuchtes Tuch auf seinem erhitzten Gesicht. Flinke Hände hüllten ihn in Decken ein und schoben ihm ein Kissen unter den Kopf.
Langsam schlug er die Augen auf. Er lag in einem bunten Wagen, dessen Wände mit gestickten Teppichen, Perlenschnüren und leuchtenden Seidenvorhängen geschmückt waren. Entgeistert riß er die Augen auf. Er kannte diesen Wagen.
Dann beugte sich ein dunkelhäutiges, sinnliches Gesicht über ihn, das von dichten schwarzen Locken umrahmt war. Das Lächeln, das ihn begrüßte, strahlte blendend.
»Ich habe dir vorausgesagt, daß wir einander wieder begegnen würden, Wil Ohmsford.«
Es war Eretria.
35
Fünf Tage lang lieferten sich das Heer der Elfen und die Freitruppe der Grenzlegion immer wieder erbitterte Kämpfe mit den Dämonen, während sie quer durch das Westland nach Arborlon zurückwichen. Durch das weite Sarandanon-Tal, durch dichte, verwilderte Wälder, durch Waldschneisen und ausgefahrene Ziehwege wichen sie langsam zurück, immer weiter nach Osten, auf Schritt und Tritt verfolgt von den Dämonen-Horden. Sie marschierten bei Tag und Nacht ohne Rast, häufig ohne sich eine Mahlzeit zu gönnen, denn die Ungeheuer, die sie verfolgten, schienen weder Schlaf noch Nahrung zu entbehren. Unbelastet von menschlichen Bedürfnissen, nicht eingeschränkt von menschlichen Grenzen, jagten die Dämonen ihnen erbarmungslos nach, getrieben von zielgerichteter Raserei. Wie Hunde auf der Jagd hetzten sie das zurückflutende Heer, traktierten es immer wieder mit Störangriffen an den Flügeln, fielen hin und wieder in wütender Attacke darüber her, bemühten sich, es von seinem Kurs abzubringen, es kampfunfähig zu schlagen und zu vernichten. Beinahe unablässig folgten die Angriffe aufeinander, und die Elfen und ihre Verbündeten, die vom Kampf am Baen Draw schon ermattet waren, fielen schnell der Erschöpfung anheim. Und mit der Erschöpfung kamen Verzweiflung und Furcht.
Auch Andor Elessedil wurde ein Opfer dieser Furcht. Bei ihm fing es mit dem Gefühl seines Versagens an. Die Toten, die Niederlagen der letzten Tage, die Gedanken an das, was die Elfen hatten erreichen wollen und was sie nicht erreicht hatten, quälten ihn. Doch selbst das war nicht das schlimmste Unheil. Denn während sein geschlagenes Heer nach Osten marschierte und rund um ihn herum seine Landsleute starben, wurde Andor langsam klar, daß vielleicht keiner von ihnen diesen langen Rückmarsch überleben würde — daß sie womöglich alle sterben würden. Und aus dieser schrecklichen Erkenntnis wurde die Furcht geboren, die ihm zum ständigen Peiniger wurde — gesichtslos, hinterhältig, immer im Schatten seiner Entschlossenheit lauernd. Führer der Elfen, fragte sie verschlagen, was willst du tun, um deine Landsleute zu retten? Bist du so hilflos? So viele sind gefallen — doch was ist, wenn auch alle jene, die noch geblieben sind, fallen werden? Diese Stimme der Angst quälte und folterte ihn und drohte, den letzten Funken Entschlossenheit durch völlige Verzweiflung zu ersticken. Selbst Allanons Anwesenheit half ihm nicht, denn der schwarzgewandete Druide blieb unzugänglich und verschlossen, während er an Andors Seite ritt, verborgen hinter den Mauern seiner eigenen Welt dunkler Geheimnisse. Andor also kämpfte allein gegen seine Furcht und richtete seine ganze Kraft darauf, sie zu besiegen, während er niedergeschlagen und verbittert seine Soldaten nach Arborlon zurückführte.
Stee Jans war es schließlich, der sie alle rettete. In dieser finstersten Zeit scheinbar unvermeidlicher Niederlage und drohender Verzweiflung zeigte der hünenhafte Grenzländer die Hartnäckigkeit, die Unnachgiebigkeit und den Mut, die den Grundstein zur Legende vom Eisenmann gelegt hatten. Nachdem er eine Nachhut von Elfen und Freikämpfern um sich gesammelt hatte, schickte er sich an, die Hauptkolonne seines Heeres zu verteidigen, das im Schutz der Nacht seine Toten und Verwundeten ostwärts trug. In einer Folge von Ausfallattacken und Scheinangriffen brachte der Befehlshaber der Freitruppe die Verfolger durcheinander, indem er sie immer wieder auf sich zog, erst in der einen Richtung davonjagte, dann in der anderen; kurz, er wandte die gleiche Taktik an, die sich am Baen Draw als so erfolgreich erwiesen hatte. Immer wieder jagten die Dämonen ihm hinterher, erst durch das Sarandanon-Tal, dann in die jenseits liegenden Wälder. Immer wieder versuchten sie, die wendigen grauen Reiter und die flinken Elfenpferde einzufangen, und kamen doch immer einen Augenblick zu spät, um dann nur noch eine leere Ebene, einen verlassenen Engpaß, eine Mulde, die dunkel war von Schatten, einen verwilderten Pfad vorzufinden, der sich im Nichts verlor. Mit einer Geschicklichkeit ohnegleichen, welche die Dämonen verblüffte und in Rage brachte, spielten Stee Jans und seine Reiter ein tödliches Katz- und Maus-Spiel, schienen überall zugleich zu sein, nur nicht dort, wo das Gros des Heeres in Richtung auf Arborlon marschierte.
Die ohnmächtige Wut der Dämonen steigerte sich maßlos; in blindwütiger Besessenheit jagten sie ihren Feinden nach. Dies waren andere Dämonen als die biegsamen schwarzen Geschöpfe, die aus dem Hügelland nördlich des Baen Draw herausgestürmt waren, das Sarandanon zu nehmen. Diese Dämonen, die oberhalb des Kensrowe-Gebirges nach Osten marschiert waren, waren weit gefährlicher als ihre geringeren Brüder und besaßen Kräfte, denen kein gewöhnlicher Mensch etwas entgegenzusetzen hatte. Einige von ihnen waren von gewaltiger Größe, mit muskulösen Gliedern und einem gepanzerten Leib — Geschöpfe blinder Zerstörung. Andere waren klein und wendig, konnten allein durch eine Berührung töten. Manche waren langsam und schwerfällig, andere so flink wie Quecksilber, wenn sie wie Gespenster durch die Schatten der Wälder glitten. Manche waren vielgliedrige Geschöpfe, andere hatten überhaupt keine Glieder. Manche spieen Feuer wie Drachen der alten Zeit, andere waren menschenfressende Ungeheuer. Wo sie sich zeigten, blieb das Land der Elfen verkohlt und voller Wunden zurück, so verwüstet, daß nichts mehr auf ihm leben konnte. Doch die Elfen selbst entzogen sich ihnen immer gerade um Haaresbreite.