Zum ersten Mal war ihr das versteckte Getuschel der Rosenohren — wie man unter Elfen die Menschen wegen ihrer verkümmerten, runden Ohren nannte — in Ferdok aufgefallen. Die kleine Stadt war einer der bedeutendsten Umschlagplätze für den Handel entlang des Großen Flusses.
Arthag hatte darauf bestanden, hier einen Tag Rast einzulegen. Vermochte der Zwerg auf seinen kurzen Beinen sonst kaum Schritt mit ihr zu halten, so war er an diesem Tag stundenlang marschiert. Den Grund dafür erfuhr Nyrilla erst am Abend.
Arthag hatte sie überredet, ihm in eines der Gasthäuser zu folgen, um ihr dort die berühmteste Spezialität der Stadt zu kredenzen. Einen fürchterlich bitteren, hellbraunen Trunk. Sie hatte den ganzen Abend gebraucht, auch nur einen Krug dieses widerlichen Gebräus herunterzuwürgen. Nicht so Arthag. Er bestellte munter einen Krug nach dem anderen und lobte das ›köstliche‹ Ferdoker Gerstenbräu in den höchsten Tönen. Zu vorgerückter Stunde fing der Zwerg dann auch noch an zu singen und forderte sie ständig auf, mit ihm gemeinsam diese unmelodischen, zwergischen Heldenlieder anzustimmen.
Schließlich hatte sie sich von ihrem Platz erhoben und sich auf den Heimweg gemacht. Arthag aber war geblieben. Selbst am nächsten Morgen war er noch nicht in ihre Herberge zurückgekehrt, und als sie ihn besorgt suchte, fand die Elfe ihn unter dem Tisch, an dem er in der vergangenen Nacht gezecht hatte.
Alle Versuche, den Zwergen zu wecken, mißlangen. Schließlich erklärte ihr die Wirtin, daß Arthag nichts fehle, aber er dringend einen Tag der Ruhe in einer dunklen Kammer brauche. Nyrilla hatte dieses unmäßige Trinken nicht begriffen. Sicher hatte sie schon davon gehört, daß Zwerge ein ganz besonderes Vergnügen daran fanden, ihre Sinne mit Alkohol zu benebeln, doch verstehen konnte sie das nicht. Wie konnte man sich nur freiwillig in einen so erbärmlichen Zustand versetzen, daß man bewußtlos unter den Tisch einer Schenke fiel? Das grenzte ja schon an Selbstverstümmelung. Wahrscheinlich steckte doch ein anderer Grund dahinter. Vielleicht war die Trinkerei ein ganz besonderes Opfer für den Gott der Schmiede, den Arthag wie alle Zwerge unerschütterlich verehrte. Einen anderen Grund konnte sie sich einfach nicht vorstellen.
Doch was nutzte all das Philosophieren. Es galt, den Zwerg in eine dunkle Kammer zu schaffen. Nyrilla lieh sich bei der Wirtin einen kleinen Handkarren und brachte den Zwerg, gefolgt von einer johlenden Kinderschar, zurück in das Gasthaus, indem sie am Vorabend abgestiegen waren.
Dort legte sie den gewichtigen Zwerg in sein Bett und beobachtete ihn noch eine Weile. Eigentlich hatte sich Arthag gut von den Wunden erholt, die er sich bei seiner unglücklichen Flußfahrt zugezogen hatte. Schon kurz nachdem der Ork Garbaz sie verlassen hatte, war der Zwerg erwacht und bestand darauf, lieber zu Fuß zu gehen, als noch weiter auf dem ›verlausten Pony‹ zu liegen.
Nyrilla hatte darauf mit einem Seil zwei schwere Steine auf dem Sattel des Ponys festgebunden, und das Tier in Richtung Kosch-Berge davongejagt. Durch die Last der Steine würde auch ein kundiger Fährtensucher glauben, daß das Pony noch immer einen Reiter trug.
Die List schien gelungen zu sein, jedenfalls wurden sie während ihrer weiteren Reise nicht mehr von den Schwarzpelzen behelligt. In einem kleinen Dorf handelten sie einige Kleidungsstücke für den Zwerg ein, was sich als überraschend einfach erwies, da es in dieser Region sehr viele Zwerge gab.
Über eine Woche waren sie dann durch die Wälder westlich des großen Flusses, nahe der Kosch-Berge gewandert und eine Zeit lang dem Ufer eines großen, kristallklaren Sees gefolgt. Arthag blickte, wann immer eine weitgestreckte Lichtung die Sicht auf das mächtige Kosch-Gebirge freigab, wehmutsvoll zu den weit entfernten Gipfeln.
Häufig verlangte er dann nach Pausen, um noch ein wenig länger die Berge betrachten zu können, bevor sie wieder hinter den Wipfeln des dichten Waldes verschwanden. Bei diesen Gelegenheiten erzählte er gerne von der Geschichte seines Volkes.
Stunden um Stunden berichtete er der Elfe von dem jahrhundertealten Kampf der Zwerge gegen die Drachen. Von den kühnen Geschlechtern, die ihre Tunnel in den Granit der Kosch-Berge getrieben hatten und von Helden mit unaussprechlichen Namen, die alle bekriegt hatten, was sich den Bergfreiheiten — wie die Zwerge ihre Königreiche nannten — näherte. Als sie schließlich bei einer Rast eine schneebedeckte Felsnadel zwischen den Bergen entdeckten, war Arthag immer nervöser geworden. Er hatte darauf bestanden, daß sie ›einen kleinen Umweg nach Osten‹ machten und Nyrilla sogar dazu überredet, eine Flußfähre zu besteigen, um nach Ferdok überzusetzen.
Und alles nur wegen des sinnlosen Besäufnisses, nach dem er den ganzen Tag schnarchend in seinem Bett gelegen hatte. Noch immer begriff die Elfe nicht den seltsamen kultischen Zwang, der den Zwerg in diese kleine Stadt getrieben hatte, um sein eigenartiges Trinkopfer zu vollziehen. Oder hatte er sich doch nur animalischer Trinksucht hingegeben? Nach diesem Zwischenfall waren sie einige Tage auf einem Flußschiff nach Süden gereist. Für Nyrilla war dies der anstrengenste Abschnitt der Reise. Es regnete die ganze Zeit. Sie hatte die Wahl, entweder in einer stickigen großen Kabine mit stinkenden Rosenohren oder im Regen an der Reling zu hocken.
Dem Zwerg schien die Fahrt allerdings noch schlechter zu bekommen. Wohl infolge seines großen Trinkrituals hatte er sich eine eigentümliche Krankheit zugezogen. Wann immer das plumpe Flußschiff von der Strömung geschüttelt wurde, stürzte er aus der Kabine, um sich an der Reling seines Essens zu entledigen, was die ungehobelten Rosenohren mit schallendem Gelächter quittierten.
Als das Flußboot schließlich an den Kais von Albenhus anlegte, war Arthag einer der ersten, der über ein wackeliges Brett von Bord ging. Kaum an Land vollführte er wieder eines seiner eigentümlichen Rituale. Er warf sich auf den Boden und schien den Schlamm der Straßen zu küssen. Daß er dabei seine neue Kleidung ruinierte, war ihm völlig gleichgültig. Anschließend schwor Arthag feierlich bei Angrosch, niemals wieder das Schiff zu betreten, mit dem sie in die Stadt gekommen waren, und Nyrilla ließ sich auch gerne davon überzeugen, daß es besser sei, den Rest der Reise zu Fuß fortzusetzen.
Trotzdem mußten sie noch ein letztes Mal ihr Leben einem Boot anvertrauen, weil Arthag darauf bestand, nach Alben, dem Stadtteil am nördlichen Flußufer, überzusetzen, wo man seiner Meinung nach viel freundlicher behandelt würde.
Die Häuser in diesem Stadtteil sahen merkwürdig aus, fast so, als seien sie im Laufe der Jahrhunderte in die Erde eingesunken. Alle Eingangstüren lagen einen Schritt unter dem Niveau der Straßen, und die Türen waren so niedrig, daß sich die Elfe tief bücken mußte, um sie zu passieren.
Und dann hatte Nyrilla auch begriffen, warum der Zwerg der Meinung war, hier so viel freundlicher aufgenommen zu werden. Der ganze Stadtteil war eine einzige große Zwergensiedlung, und Arthag hatte die Gelegenheit wahrgenommen, einen alten Freund am Platz der Feueröfen nahe des Ingerimm-Tempels zu besuchen.
Arthag feierte dieses Wiedersehen erneut mit einem seiner rituellen Trinkopfer. Im Laufe der Nacht fanden sich noch mehr als ein halbes Dutzend Zwerge ein, die ihren Gefährten lauthals begrüßten und an der Zeremonie teilnahmen.
Diesmal wurde Nyrilla erst gar nicht aufgefordert, an dem Fest teilzunehmen. Es war offensichtlich, daß die Zwerge es vorzogen, unter sich zu bleiben, und sie zog sich zeitig in die enge Dachkammer zurück, die man ihr als Schlafplatz zugewiesen hatte. Dort nächtigte sie auf einem Sack voller Stroh, den der Gastgeber unter vielen Entschuldigungen heraufgetragen hatte, denn im ganzen Haus fand sich kein Bett, in das sie hineingepaßt hätte.
Am nächsten Morgen war Arthag zum Glück nicht so krank wie nach seinem Opferdienst in Ferdok, und sie konnten in Alben ihre Ausrüstung ergänzen, bevor sie nachmittags aufbrachen, um weiter dem Lauf des großen Flusses zu folgen.
Eine Woche dauerte es, bis sie die Ebene westlich der Kosch-Berge durchquert hatten und die ersten Ausläufer der Ingra-Kuppen erreichten. Dieses Gebiet war ein wildes Land, in dem man selbst zu Friedenszeiten auf Banden räuberischer Orks treffen konnte. Zahlreiche Burgruinen entlang des Großen Flusses kündeten von den jahrhundertalten Fehden unter den Menschen.