Nyrilla hatte durchgesetzt, daß sie stets in der Nähe des Wassers blieben. Wenn sie abends ihr Lager im hohen Schilf des Flusses aufschlugen, fing sie einige Fische, und einmal gelang es ihr sogar, einen Riesenlöffler zu erjagen, eine Kaninchenart, die normalerweise nur in felsigem Terrain zu finden war.
Auf Menschen trafen sie während der Reise nicht. Der Treidelpfad entlang des Großen Flusses lag auf der anderen Seite des Ufers. Nur wenige Schiffe waren noch unterwegs, denn mit dem Herbstregen war der Strom angeschwollen, und es war mühselig, die schweren Lastkähne noch flußaufwärts zu bewegen.
Als sie die Ingra-Kuppen erreichten, wurde Arthag immer aufgeregter. Es war das erste Mal, daß er Xorlosch besuchte. Die Stadt galt den Zwergen als heilig, war sie doch die Geburtsstätte des kleinen Volkes. Jeder Zwerg, der etwas auf sich hielt, sollte einmal in seinem Leben zum Angrosch-Tempel von Xorlosch gepilgert sein. Arthag hatte Nyrilla davon erzählt, doch über solchen Aberglauben konnte sie nur mitleidig lächeln. Überhaupt verstand die Elfe die Ehrfurcht nicht, die Arthag, wann immer die Rede auf Xorlosch kam, an den Tag legte.
Am Mittag des zweiten Tages, den sie sich durch das Bergland kämpften, erreichten sie die Stelle, wo der Hardelbach in die Breite flöß. Arthag machte einen regelrechten Freudensprung, als er an der Mündung des kleinen Seitenflusses einen verborgenen Stein fand, in den einige Runen gemeißelt waren.
»Hier sind wir richtig«, verkündete er freudig. »Wir müssen nur noch anderthalb Tage diesem Bächlein folgen, dann haben wir das heilige Xorlosch erreicht.«
»Was steht denn da auf dem Stein?« wollte Nyrilla wissen.
»Nichts Besonderes«, druckste Arthag herum. »Im wesentlichen bedeutet es, daß alle, die diese Schrift lesen können und darauf dem Bach folgen, ein freundlicher Empfang erwartet.«
Die Elfe hielt inne. Sie konnte diese Schrift nicht lesen! Doch wollte sie Arthag nicht seine gute Laune nehmen. Man würde ja noch früh genug sehen, ob sich vor ihnen die Tore der altehrwürdigen Stadt öffneten. Am Abend fand das ungleiche Gespann Unterkunft in einer verlassenen Jagdhütte. Es war ungewöhnlich kalt geworden, und Nyrilla war froh, als sie vor einem lodernden Kaminfeuer saß.
»Wie es jetzt wohl um Greifenfurt stehen mag?« Die Elfe blickte zu Arthag herüber, der mit einem langen Stock in der Glut stocherte. »Ich bin sicher, daß sie sich noch ganz gut gegen die Orks behaupten! Wahrscheinlich liegen die Schwarzpelze noch immer in ihren Lederzelten und lecken ihre Wunden.«
»Was macht dich so sicher?«
Der Zwerg drehte einen halbverkohlten Holzklotz um und starrte in die Flammen. Erst nach einer ganzen Weile antwortete er mit gespielter Zuversicht. »Ich weiß es so sicher, weil noch viele Zwerge in der Stadt stehen. Solange Hauptmann Himgi noch eine Handvoll wackere Angroschim um sich hat, wird er die Mauern halten.«
Nyrilla lag eine zynische Frage auf der Zunge, doch sie behielt sie für sich. Lebhaft erinnerte sie sich an den großen Sturmangriff der Schwarzröcke. Damals waren auch Hauptmann Himgi und seine Recken nicht mehr in der Lage gewesen, die Orks zurückzuschlagen.
Als die Stadt dann doch noch gerettet wurde, hatten die Bürger von einem Wunder geredet. Die ahnungslosen Rosenohren glaubten, Boron selbst sei ihnen zu Hilfe geeilt und habe eine Schar auserwählter Kämpfer in schwarzen Umhängen geschickt, um die blutrünstigen Angreifer zurückzuschlagen. Nyrilla lächelte bitter. Sie wußte nur zu gut, was in Wirklichkeit hinter diesem Wunder gesteckt hatte, und das bestätigte sie erneut in ihrem Glauben, daß es keine Götter geben konnte.
Arthag hatte sich in seinen Umhang eingerollt und war neben dem Feuer eingeschlafen. Die Elfe stand noch einmal auf und prüfte die Tür und die hölzernen Fensterländen. Als sie sich davon überzeugt hatte, daß alles gut verriegelt war, legte auch sie sich zum Schlafen.
Am nächsten Morgen machten sich die zwei auf den Weg. Nahe der Hütte überquerten sie den Hardelbach an einer umgestürzten Tanne. Auf der anderen Seite des Flusses fanden sie Radspuren, die sich tief ins Erdreich gegraben hatten. Mit einem Blick wußte Nyrilla, daß der Weg, obwohl er schon seit einigen Tagen nicht mehr befahren worden war, regelmäßig von schweren Fuhrwerken benutzt wurde.
Hier ließ es sich wesentlich bequemer wandern. An einigen Stellen waren Schneisen in den dunklen Tannenwald geschlagen. Arthag erklärte der Elfe, daß sehr viel Holz benötigt wurde, um das Erz, daß von Menschen nach Xorlosch geliefert wurde, sachgerecht zu verhütten.
Am späten Nachmittag zeichnete sich hinter den lichter werdenden Tannenwäldern eine Felswand ab, hinter der sich ein gewaltiger, schneebedeckter Wipfel erhob.
»Wir sind da!« jubelte Arthag. »Der Berg dort ist der Weißkegel; genaugenommen ist es kein Berg, sondern ein erloschener Vulkan. Im Inneren des Kraters liegt der oberirdische Teil von Xorlosch. Die Bergwände hier ringsherum sind so steil, daß es so gut wie unmöglich ist, sie zu erklimmen und die Stadt dadurch über einen schier unüberwindlichen, natürlichen Festungsring verfügt. Die Zwerge von Xorlosch nennen die Kraterwände den Inneren Ring. Der Teil der Ingra-Kuppen, durch die wir gestern und heute marschiert sind, bilden den Eisenring. Der Weg entlang des Hardelsbachs ist der einzige, der zum Inneren Ring führt. Alle anderen Wege verlieren sich irgendwo in der Wildnis oder enden vor Felswänden. Du siehst, die Heimat meines Volkes ist eine beinahe uneinnehmbare natürliche Festung.«
Nyrilla hatte in den letzten Wochen viel Übung darin bekommen, die weitschweifigen Erklärungen des Zwerges zu ertragen, die im Grunde alle darauf hinausliefen, daß alles, was sein Volk erschaffen hatte, größer, schöner oder besser als alles Vergleichbare war.
Als sie den Wald verließen und wieder entlang des Hardelsbaches wanderten, konnte man deutlich einen breiten Riß erkennen, der in der steilen Bergwand klaffte. Durch diese Spalte schien auch der Bach zu strömen. Genau ließ sich das aber nicht erkennen, denn eine Mauer mit zwei Türmen, die ein prächtiges Tor flankierten, versperrte die Sicht. Der Bach wurde in einem Tunnel unter der Mauer durchgeleitet, den dicke Eisenstäbe vor unerwünschten Eindringlingen sicherten.
Kaum waren sie aus dem Wald getreten, als auf einem der Türme ein Horn erklang. Krieger waren jedoch nicht zu sehen.
Bei näherer Betrachtung der Toranlage verschlug es Nyrilla schier den Atem. Eine Befestigungsanlage aus prächtig verziertem Marmor war etwas, wovon sie zumindest in alten Elfenliedern schon gehört hatte, doch das Tor nach Xorlosch übertraf selbst die goldbeschlagenen Pforten von Tie'-shianna. Dieses hohe, zweiflügelige Tor war aus schwarzem Basalt gefertigt, und die Elfe konnte sich nicht vorstellen, wie diese Pforten ohne die helfende Hand eines Riesen geöffnet werden mochten.
Als sie noch etwa fünfzig Schritt von der Toranlage entfernt waren, rief sie ein hinter den Zinnen verborgener Wächter an und fragte, wer sie seien und was sie wollten.
»Vor dir stehen Arthag Armbeißer aus dem Volke der Amboßzwerge und Nyrilla die Auelfe. Wir bitten um Audienz bei der Priesterschaft und beim König«, entgegnete der Zwerg mit tönender Stimme.
»So höre denn, Arthag, daß wir hier in Xorlosch nicht vergessen haben, wie das Volk vom Amboß seine Tore für uns nicht geöffnet hat, als wir es in Zeiten der Not um Hilfe baten. Auch vergaßen wir nicht, wie ihr die Söhne Brogars mit Feuer und Schwert verfolgtet, weil sie sich gegen diesen Entschluß auflehnten.«
»Was meint der damit?« flüsterte Nyrilla verwundert.
Arthag brummte etwas vor sich hin, bevor er ihr leise antwortete: »Weißt du, die Zwerge von Xorlosch sind sehr dickköpfig und nachtragend. Die Geschichte, auf die er anspielt, liegt mehr als 4000 Jahre zurück. Damals sind die Erzzwerge für ihre Vermessenheit mit einem großen Unglück gestraft worden. Hunderte haben Xorlosch verlassen, und viele suchten bei uns Schutz, doch da sie von Angrosch selbst bestraft wurden, haben wir sie nicht in unsere Städte und Stollen gelassen, um den Zorn des Gottes nicht auf uns zu lenken. Das kannst du doch wohl verstehen, oder?« Mit lauter Stimme wandte sich Arthag wieder an den Wächter. »Höre, du Ausgeburt sprödesten Sandsteins. Wir sind Boten und haben dringende Nachricht für deinen König und die Priesterschaft. Verschließt du uns das Tor, verstößt du gegen altes Recht, das besagt, das jedem Boten Gehör geschenkt werden muß.«