»Ich höre Euch gerne zu«, erscholl es hinter den Zinnen. »Und ich werde Eure Botschaft auch weiterleiten, wie es das Recht gebietet, doch ist das noch lange kein Grund, einen Landstreicher, wie Ihr es seid, hereinzubeten.«
Arthag lief langsam rot an und schnaubte bereits vor Wut. Nyrilla wußte, daß nun von ihm keine vernünftigen Argumente mehr zu erwarten waren und der Disput zwischen den Zwergen womöglich mit einem Duell enden mochte. Noch bevor Arthag Gelegenheit zu einer Antwort fand, rief sie deshalb dem Torwächter zu: »Höre, erhabener und geschichtsgelehrter Krieger. Wir sind im Dienste des Kaiserreichs hier und haben wichtige Nachrichten zu bringen. Jeder von uns trägt einen Ring, der ihn als einen Diener des Prinzen ausweist. Prüft die Ringe und gewährt uns Einlaß, denn Ihr könnt gewiß sein, daß sich eine Elfe niemals vor das Tor von Xorlosch verirrt hätte, wenn es dafür nicht einen wirklich triftigen Grund gäbe.«
Eine Weile war es still auf dem Wachtturm. Nyrilla überlegte bereits, ob sie vielleicht etwas Falsches gesagt hatte, da erklang erneut die Stimme vom Turm.
»Ich laß Euch nun einen Korb herab. Legt Eure Ringe hinein. Ich werde sie zum Tempel schicken, wo sie geprüft werden. Seid Ihr beide wirklich Boten im Dienst des Prinzen, so wird Euch Einlaß gewährt werden.« Nyrilla zog ihren Köcher von der Schulter und machte sich an seinem Boden zu schaffen. Dort war in einem verborgenen Fach der Siegelring mit dem Greifenkopf versteckt, der sie als Agentin im Dienste der Kaiserlich Garethischen Informations-Agentur auswies.
Der Zwerg trat unterdessen verlegen von einem Bein auf das andere. Schließlich murmelte er: »Kannst du dich vielleicht einmal umdrehen? Mein Siegelring ist in dem einzigen Kleidungsstück verborgen, daß ich im Fluß nicht verloren habe. Ich muß erst einiges ablegen, um an das Versteck zu gelangen.«
Schmunzelnd drehte sich die Elfe zur Seite. Bisher hatte sie gar nicht gewußt, daß Arthag so prüde war.
Als er sein Siegel endlich herausgeholt hatte, packte Nyrilla die beiden Ringe, lief zum Tor hinüber und legte sie in den Korb, der von den Zinnen des Turms herabgelassen worden war. Dann wurde der Korb hastig heraufgezogen.
Danach geschah lange Zeit nichts. Die Sonne war schon fast hinter den Bergen verschwunden, als sie schließlich wieder die vertraute Stimme hörten.
»Gramosch, Sohn des Gorro und Meister des Tempels am Seegrund, hat mich beauftragt, Euch Einlaß zu gewähren. Er wird Euch zuhören und entscheiden, ob Ihr beim Bergkönig Tschubax oder den Priestern der heiligen Halle vorsprechen könnt. Da selbst zu Zeiten, als Ramoxosch von Lorgolosch mit dem Elfenkönig Tasilla Abendglanz einen Pakt zur Vernichtung der Schwarzpelze schloß, dieses Tor nicht für Elfen geöffnet wurde und seitdem auch kein Elfe an diesem Ort mehr vorgesprochen hat, wird sich auch heute dieses Tor nicht für Euch öffnen.«
Nyrilla verschlug es schier die Sprache. Noch nie hatte sie erlebt, daß Gastfreundschaft auf solche Art mit Füßen getreten wurde.
»Hatte ich dir schon erzählt, daß die Erzzwerge von Xorlosch bis zum blanken Aberwitz traditionsbewußt sind?« raunte Arthag mit zynischer Stimme. »Ich hoffe doch sehr, daß sie uns wenigstens ein Zelt oder eine andere angemessene Unterkunft anbieten.«
Kaum hatte Arthag ausgesprochen, da wurde der hölzerne Arm eines Krans über die Zinnen geschwenkt, um langsam ein großes Faß herabzulassen. »Steigt in das Faß!« erklang es vom Turm.
Die Elfe und der Zwerg gehorchten und wurden in dem hin- und herpendelnden Faß nach oben gezogen. Während Nyrilla diese ungewöhnliche Art des Transportes interessant fand, konnte sie beobachten, wie Arthag verkrampfte und es tunlichst vermied, nach unten zu schauen.
Als sie über der Mauerkrone schwebten, wurde der Kran zur Seite geschwenkt und das Faß vorsichtig auf der anderen Seite des Tores heruntergelassen. Dicht neben dem Kran, den einige schwitzende Zwerge mit nacktem Oberkörper bedienten, stand ein Krieger in schimmerndem Kettenhemd.
»Folgt mir«, sagte er schlicht. Der Stimme nach zu urteilen, mußte es der Wächter des Turmes sein, mit dem sie debattiert hatten. Der kleine Mann trug einen weißen Bart, der bis weit über seinen Gürtel herabreichte. Ein kostbar geschmiedeter Helm mit silbernen Schwingen krönte sein Haupt, und in der Rechten führte er eine große zweihändige Axt, die er im Augenblick wie einen Zeremonienstab handhabte. Ohne ein weiteres Wort drehte der Zwerg sich um und marschierte auf den Riß zu, der die Felswand zerteilte.
Ein einfacher hölzerner Steg führte zwischen den mächtigen Granitwänden hindurch. Tief unter sich konnte Nyrilla den Hardelbach rauschen hören. Hinter der Klamm öffnete sich ihrem Blick ein weites, von fast senkrechten Felswänden umgebenes Tal. Dicht beim Ausgang der Klamm lagen Dutzende von Schmelzöfen, deren schwarzer Rauch den Himmel verdunkelte. Etliche vom Ruß geschwärzte Hütten erhoben sich im Talgrund.
So weit das Auge reichte, konnte man nur zwei Bäume sehen. Diese Bäume standen vor einem düsteren Palast aus Basalt, der mit goldenen Hochreliefs geschmückt war, die von der Geschichte des Kampfes gegen die Drachen erzählten. Beim Anblick des finsteren Gebäudes liefen Nyrilla Schauer über den Rücken. Dies war ein Ort der Steine. Ein toter Ort, den das Leben verlassen hatte. Einmal mehr erinnerte sich die Elfe an Arthags Geschichten. Immer wieder waren diese Felsen vom Feuer der Drachen verbrannt worden, und das Blut des Zwergenvolkes hatte jeden Fußbreit dieses unfruchtbaren Bodens getränkt.
In der Mitte des trostlosen Vulkankraters erhob sich ein Tempel, der aus Marmor, Eisen, Granit, Stahl und Silber gefertigt war. Einen so reichlichen Schmuck aus Metallen hatte Nyrilla noch an keinem anderen Gebäude in Aventurien gesehen. Es schien, als wären Steinmetze und Schmiede in einen Wettbewerb getreten, um sich in Prachtentfaltung und handwerklicher Vollendung beim Bau des Gotteshauses zu überbieten.
Das prächtige Gebäude wurde auch Jahrhunderte nachdem dieser fromme Wettkampf ausgetragen worden war, sorgfältig gepflegt. Im Gegensatz zu den Hütten strahlte es im Licht der schwindenden Sonne, so als hätte das Zwergenvolk diesen Tempel erst vor wenigen Stunden vollendet.
Der Wächter, der ihnen voranmarschierte, steuerte geradewegs auf den Tempel zu. Kleine Gruppen von Zwergen standen am Weg und musterten sie neugierig, doch keiner sprach sie an.
»Das ist das Haus unseres Gottes Angrosch«, flüsterte Arthag. »Benimm dich jetzt und untersteh dich, wieder davon anzufangen, daß es keine Götter gibt.«
Am Tor des Tempels erwartete sie ein Zwerg, der in weite Gewänder aus rotem und schwarzem Leder gekleidet war. Er war Nyrilla auf Anhieb unsympathisch. Sein gepflegter stahlgrauer Bart war zu Zöpfen geflochten, die ihm weit auf die Brust hinabreichten, und sein langes, glattes Haar wurde von einem ledernen Stirnband gehalten.
»Seid willkommen in Xorlosch, der Heimat aller Zwergengeschlechter. Folgt mir in den Tempel, und erzählt, warum es Euch danach verlangt, König und Priesterschaft zu sehen.«
Der Wächter, der sie bislang begleitet hatte, blieb am Fuß der Treppe stehen, stieß mit dem Knauf seiner Axt dreimal auf den Boden und rief: »Erhöret den Tempelmeister Gramosch, Sohn des Gorro, und seid ohne Arg in Eurem Tun, denn wisset, das Auge des Gottes ruht auf Euch in diesen Hallen.«
Noch bevor der Wächter mit seiner Litanei fertig war, hatte Gramosch sich bereits umgewandt und war gemessenen Schrittes in den Tempel getreten. Dort durchmaß er eine gewaltige Halle, die von Basaltsäulen getragen wurde. Riesige Feuerschalen aus Erz und Kupfer warfen ein flackerndes Licht in die Halle, deren Fußboden mit Mosaiken aus Achaten, Porphyren, Türkisen, Jade und vielen anderen Halbedelsteinen ausgelegt war. Alle Bilder auf dem Boden stellten einen mächtigen, bärtigen Schmied dar; im unsteten Licht der Feuerschalen wirkten sie auf beängstigende Art lebendig. Nyrilla ängstigten die Götterbilder, und sie wünschte sich, dieses Tal niemals betreten zu haben, während sie widerstrebend dem Tempelmeister tiefer in die Hallen des Angrosch folgte.