»Zügel das Pferd«, rief Andra.
»Vergiß es«, schrie der Ritter. »Wir können uns nicht leisten, unseren Vorsprung aufzugeben.«
»Halt an, oder ich spring herunter.«
Widerwillig brachte Alrik den Braunen zum Stehen. »Was hast du vor? Wir haben jetzt wirklich keine Zeit für deine Spielchen.«
»Darum geht es, du Ignorant. Ich werde die Felsspalte hinabsteigen. Es kann nicht mehr lange dauern, bis du aus dem Schnee heraus bist, und auf felsigen Grund werden uns die Elfenpferde einholen. Zu zweit sind wir zu schwer für meinen Braunen.«
»Du willst die vereisten Felsen herunterklettern? Bist du von allen guten Geistern verlassen?«
»Das ist mit Sicherheit nicht gefährlicher, als mit dir zu reiten. Und jetzt schau, daß du weiterkommst, sonst erwischen uns Leriellas Häscher noch beim Diskutieren.« Mit diesen Worten ging Andra auf die klaffende Schlucht zu und begann vorsichtig, den eisschimmernden Abhang hinabzuklettern. Ungläubig starrte Alrik ihn hinterher.
Kopfschüttelnd schwang sich der Ritter auf sein Pferd. Um keinen Preis der Welt würde er diese Bergwand herunterklettern, aber Andra wußte sicher, was sie tat.
Zu seiner Linken konnte er die ersten Reiter erkennen. Sie waren einige hundert Schritt entfernt und erreichten gerade die Schneegrenze. Alrik gab dem Braunen die Sporen.
Schon fast eine Stunde mußte vergangen sein, seit Andra ihn verlassen hatte. Der Ritter hatte die Schneegrenze schon lange hinter sich gelassen. Doch obwohl Andras Pferd mehr Kraft und Ausdauer bewies als jedes andere Pferd, das er jemals geritten war, gelang es seinen Verfolgern stetig aufzuholen.
Jetzt konnte er schon deutlich die Wappen der vorderen Feenritter erkennen. Ein roter Falke auf weißem Grund. Gierig hatte der Raubvogel die Fänge vorgestreckt, so als wolle er gleich im Sturzflug seine Beute schlagen. Alrik kannte das Wappen nur zu gut. Das waren die Leibwachen Leriellas.
Noch einmal blickte er über die Schulter. Wieder waren sie ein Stück näher gekommen. Jede Einzelheit war jetzt deutlich zu erkennen. Die Reiter trugen hohe federgeschmückte Helme und unter ihren weißen Waffenrökken Schuppenpanzer, die im Sonnenlicht silbrig schimmerten. Alle waren mit langen Reiterlanzen bewaffnet.
Alrik schwitzte. Er durfte sie nicht zu nahe herankommen lassen. Gegen die Lanzen konnte er nicht bestehen. Sie würden ihn vom Pferd gestochen haben, noch bevor er den ersten Schwerthieb landen könnte. Mit einem von ihnen mochte er vielleicht noch fertig werden, aber es waren mehr als zehn, die ihn jagten.
Der Hengst zeigte langsam die ersten Anzeichen von Erschöpfung. Immer häufiger stolperte er in dem unebenen Gelände, daß er anfangs mit beinahe übernatürlicher Sicherheit passiert hatte. Andras Brauner war wirklich etwas Besonderes. Doch auch über Feen- und Elfenpferde erzählte man sich die unglaublichsten Geschichten. Ängstlich blickte Alrik zurück. Seine Verfolger hatten schon wieder um mindestens eine Pferdelänge aufgeholt.
Das unebene Gelände war kein Vorteil gegen sie, soviel war sicher, und wenn kein Wunder geschah, dann würden sie ihn bald haben.
Vor sich konnte Alrik jetzt die Ruine eines alten Wachtturms erkennen. Dort mußte der Weg beginnen, von dem Andra erzählt hatte! Noch einmal gab er dem Hengst die Sporen. Blutiger Schaum tropfte dem erschöpften Tier von den Nüstern. Alrik fluchte.
Schließlich erreichten sie einen gewundenen Pfad, der von der Ruine in weiten Kehren den Berg hinabführte. Wenn er nicht bald den Wald erreichte und dort ein geeignetes Versteck fände, wäre es um ihn geschehen. Wieder blickte Alrik zurück.
Die Reiter schienen ein kleines Stück an Boden verloren zu haben. Oder wurden sie absichtlich langsamer? Ritt er in eine Falle?
Alrik bog erneut um eine Kehre des Hohlwegs, und dann wußte er, warum die anderen sich Zeit ließen. Keine zweihundert Schritt vor ihm wartete ein Feenritter mit eingelegter Lanze. Ihm auszuweichen war unmöglich. Links von ihm erhob sich eine steile Felswand bis in den Himmel, und rechts klaffte ein Abgrund.
Der Feenritter spornte sein Pferd. Kalt glitzernd brach sich das Sonnenlicht auf der Lanzenspitze des Reiters.
Alrik winkelte den Arm an, so daß der Schild seine Brust schützte. Mit rasender Geschwindigkeit verringerte sich der Abstand zwischen ihnen. Nun waren es vielleicht noch fünfzig Schritt ... noch dreißig ... Wenn ihn die Lanze mitten auf den Schild traf, würde er durch die Wucht des Aufpralls vom Pferd geschleudert. Womöglich stürzte er gar in den Abgrund!
Im letzten Augenblick preßte Alrik seinen Oberarm an den Brustkorb und gab dem Schild eine leichte Schräglage.
Dann traf ihn der Schlag. Eine Welle von Schmerz pulste durch seinen Arm. Die Lanzenspitze knirschte mit scharfem Kratzen über den Schild und glitt seitlich an ihm vorbei. Im Reflex schlug Alrik nach dem Ritter. Doch der Krieger fing den Schwerthieb geschickt mit seinem Schild ab. Dann hatten die beiden Reiter einander passiert.
Er würde Schwierigkeiten haben, auf dem engen Weg zu wenden, dachte Alrik. Beinahe wäre er selber über die Klippen gestürzt, als sie aneinander vorbeigeritten waren. Höchstens eine Handbreit hatte ihn noch vom Abgrund getrennt. Ein kleiner Stoß vom Pferd des Feenritters, und es wäre vorbei mit ihm gewesen.
Wieder bog Alrik um eine Wegkehre. Vor ihm lag nun eine kleine Brücke. Einige grob zusammengezimmerte Balken, darunter lauerte der Abgrund. Sein Brauner scheute. Er redete auf das Tier ein. Nur die paar Schritt noch! Auf der anderen Seite sprang Alrik aus dem Sattel. Zwei Holzstreben, die unter der Brücke schräg zur Felswand hin verliefen, stützten die Konstruktion auf dieser Seite ab. Der Oberst nahm ein Seil vom Sattel des Pferdes und schlang es um eine der Stützstreben. Dann befestigte er das andere Ende am Sattel.
»Komm Brauner, jetzt gilt es.« Er strich dem Pferd über den Hals. Langsam setzte sich der Hengst in Bewegung. Das Seil spannte sich; von der Brücke war ein Knirschen zu hören. Mit letzter Kraft stemmte sich der Braune ins Seil, doch immer noch hielt die Brücke stand. Auf der anderen Seite der Schlucht war das Donnern von Pferdehufen zu hören.
»Vorwärts, ich denke, du bist der Sohn eines Centauren. Zeig mir, was du kannst!« Auch Alrik zerrte nun an dem Seil, das bis zum Zerreißen gespannt war. Dann gab es einen trockenen Knall. Der Ritter stürzte nach vorne, während der Hengst den Weg hinabgaloppierte und mit dem Strebepfeiler hinter der nächsten Wegbiegung verschwand.
Ohne die Stütze hatte der Steig eine bedenkliche Schräglage bekommen. Alrik plagte sich auf, um den Schaden zu begutachten. Im selben Moment erschien auf der anderen Seite der Feenritter, mit dem er sich den Lanzengang geliefert hatte. Er zügelte sein Pferd und musterte die Brücke. Dann stieg er ab und setzte vorsichtig einen Fuß auf die Holzkonstruktion. Schon unter der leichten Belastung erzitterte der Steig. Alrik jubilierte. Damit wäre die Verfolgungsjagd erst einmal beendet.
Der Feenritter hatte sich inzwischen ein paar Schritt zurückgezogen. Er trug einen Topfhelm, von dem bunte Bänder herabhingen, einen weißen Waffenrock, unter dem ein silbrig poliertes Kettenhemd schimmerte, sowie einen weißen Schild mit einem roten, sich aufbäumenden Einhorn als Wappen. Trotz der schweren Rüstung wirkte der Ritter feingliedrig. Alrik stutzte. Wie konnte dieser Mann ihn beinahe im Lanzengang geschlagen haben? Noch immer schmerzte ihn der Schildarm, mit dem er den Lanzenstoß abgefangen hatte.
Jetzt nahm der Feenritter seinen Helm ab. Langes, blondes Haar fiel ihm in Locken über die Schultern. Sein Gesicht war feingeschnitten und blaß. »Nun, verlorener Gast, es scheint ganz so, als könnte ich Euch vorläufig nicht in die gastlichen Mauern des Schlosses meiner Herrin zurückbitten, doch seid gewiß, daß dies noch nicht das Ende unserer Bemühungen bedeutet. Wir alle waren überrascht, in welch unhöflicher Weise Ihr das Schloß verlassen habt.«