»Nein, so ist es nicht.« Andra rang nach Worten. »Das Besondere an diesem Wald ist, daß man manchmal unterschiedlich viel Zeit braucht, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Reitet man auf einem guten Pferd von Gareth nach Silkwiesen nicht länger als eine Stunde, so kann man in diesem Wald nie sagen, wie lange es dauern wird, bis man sein Ziel erreicht. Die Entfernung zwischen zwei Orten unterliegt einfach einer anderen Gesetzmäßigkeit.«
Andra zuckte mit den Schultern. Auch wenn Alrik sich nicht umdrehte und nichts sagte, so konnte sie doch spüren, wie sie den Ritter mit jedem Wort mehr verwirrte. »Vielleicht sollte ich doch sagen, der Wald ist verzaubert ... Ich meine, daß du niemals sicher sein kannst, wie lange du von einem Ort zum anderen brauchst, weil Zeit und Raum anderen Gesetzen unterliegen und ...«
»Schon gut, wir werden jetzt durch den Wald reiten, und irgendwann in den nächsten Stunden, Tagen oder Wochen werden wir dort sein, wo du hinwillst.« Alrik sagte nichts mehr. Er war wütend und enttäuscht. Noch am Morgen war er guten Mutes gewesen, das Feenreich bald hinter sich zu lassen.
»Das hat alles auch seine guten Seiten ...«
»Die kann ich nicht sehen«, knurrte der Oberst.
»Nun, das Problem mit den variablen Wegstrecken haben unsere Verfolger auch. Sie könne nie wissen, ob sie uns nun dicht auf den Fersen sind, weit hinter uns zurückliegen oder gar uns um Tageslängen überholt haben.«
Alrik kratzte sich am Kopf. Diese Welt war zu schwierig für ihn.
»Weißt du, auch die Zeit verläuft hier anders als im Reichsforst, wie du ihn kennst. Hier ...«
»Erklär mir lieber, was hier noch so ist, wie ich es kenne. Ich glaube, damit wirst du weniger Arbeit haben.«
»Nun sei doch nicht so bockig. Im Grunde ist diese Welt viel unkomplizierter als deine. Sie ist dir halt fremd, und du hast wohl keinerlei Bereitschaft, dich darauf einzulassen.«
Alrik sagte gar nichts mehr. Diese Debatten hingen ihm zum Hals heraus. Sehnsüchtig dachte er an die Nacht, die sie in Linoschs Waffenkammer verbracht hatten. Warum konnte Andra nicht wieder sein wie an jenem Abend? Diese Jägerin war einfach unmöglich. Zornig trieb er den Braunen an.
Als sie den Waldrand erreichten, fühlte sich der junge Oberst alles andere als erleichtert. Ein seltsamer, schwer zu beschreibender Schmerz tobte in seiner Brust, seit sie zum ersten Mal durch das lichter werdende Dikkicht die Ebene gesehen hatten. Acht Tage waren sie durch den Zauberwald geritten. Zeit genug, um sich näherzukommen.
Während er dem Braunen die Zügel ließ, schweiften seine Gedanken zurück zu der Nacht, die sie in der prächtigen Ruine mitten im Wald verbracht hatten. Kleine, leuchtende Wesen mit Schmetterlingsflügeln bereiteten ihnen zwischen geborstenen Marmorsäulen ein Lager aus kostbaren Leinen- und Brokatstoffen, und freundliche Wurzelbolde hatten ihnen morgens ein köstliches Bankett gerichtet. Ein anderes Mal hatten sie gemeinsam des Mittags unter einem Wasserfall geduscht und waren mit Nymphen im kristallklaren Wasser eines Waldsees um die Wette geschwommen.
Immer wieder war aber auch das Hufgetrappel ihrer Verfolger zu hören gewesen. Doch obwohl es ganz nah klang, waren die Feenritter nicht zu sehen gewesen. Einmal hatte er sogar gehört, wie Leriella mit Mandavar sprach. Es war, als seien sie direkt neben ihnen geritten. Noch immer schauderte Alrik, wenn er daran dachte. Andra hatte ihm erklärt, dies sei der Zauber des Waldes. Man könne sich ganz nahe sein und würde einander doch nicht bemerken.
Trotzdem hatten sie ihren Braunen gezügelt und wagten kaum noch zu atmen, denn Andra war sich nicht sicher, ob die Fee nicht doch einen Weg zu ihnen finden würde, wenn sie sie erst einmal gehört hatte.
Weit vor ihnen lag nun ein prächtiges Schloß, das sich auf einem steilen Felsen mitten aus der Ebene erhob. Alrik stockte der Atem. Solch einen Palast besaß nicht einmal der Kaiser. Die schlanken, weißen Türme schienen bis in den Himmel zu ragen. Manche waren in sich gedreht, wie das Hörn eines Einhorns, andere von Treppen umgeben, die sich in weiten Spiralen an den Turm schmiegten. Die Dächer waren mit schwarzen, schimmernden Steinen gedeckt und von goldenen Wetterfahnen gekrönt. Von unzähligen Erkern und Balustraden hingen Banner in allen nur erdenklichen Farben. Auf wunderbare Art schien das ganze Schloß mit dem Felsen, auf dem es errichtet war, verwachsen zu sein, ganz so, als seien die Türme wie Pilze aus dem Stein geschossen.
»Das ist das Schloß von Ornaval«, unterbrach Andra Alriks schweigendes Staunen. »Sobald wir die Brücke dort vorne überquert haben, befinden wir uns in seinem Reich. Dort kann uns Leriella nichts mehr antun.« Argwöhnisch musterte Alrik den Flußübergang. Die Brücke, die sich in hohem Bogen über das schäumende Wasser erhob, erschien ihm unzweckmäßig. Sie war so schmal, daß kein Karren sie passieren konnte. Selbst zwei Reiter würden dort nur mit Mühe aneinander vorbeikommen. Neben der Brücke stand ein mächtiger Baum.
»Dort unten mußt du deine Probe bestehen. Du bist doch wirklich gut im Lanzengang?« Andras Stimme klang besorgt.
»Darüber haben wir nun schon oft genug gesprochen, sag mir lieber, was mich dort unten erwartet. Soll ich etwa gegen deinen Feenfürsten Ornaval antreten?« fragte Alrik scherzend.
»So ist es!«
»Wie ...?« Alrik schluckte. Was mochte das wohl für ein Kampf sein, der ihm nun bevorstand? Das Gefecht mit Mandavar war ihm noch in unangenehmer Erinnerung. Damals hätte nicht viel gefehlt, und er wäre in den Abgrund gestürzt. Wie mochte dann erst ein berühmter Feenfürst kämpfen? Und ob er wohl auch so ritterlich wie Mandavar war und darauf verzichtete, seine Kräfte durch unlautere Zauber noch zu vervielfachen? Inzwischen waren sie näher gekommen, und Alrik konnte den Baum neben der Brücke besser erkennen. Von seinen Ästen hingen unzählige Wappenschilde, gezeichnet von Lanzenstößen und Schwerthieben. Ein hölzerner Ständer mit roten Turnierlanzen lehnte an dem Stamm, und an einem der unteren Äste hing ein geschwungenes Hörn.
»Du mußt in das Hörn blasen, um Ornaval zu fordern.«
»Danke, darauf wäre ich nicht gekommen!« entgegnete Alrik unwirsch. Andra schwieg, bis sie den Baum erreicht hatten.
Was wohl aus den Verlierern geworden sein mochte, dachte Alrik. Wer in voller Rüstung von der Brücke in den Fluß stürzte, war des Todes. Unsicher schaute er das Hörn an, das auf Armlänge vor ihm hing. Andra war schon aus dem Sattel gesprungen. Noch immer zögerte er, doch dann faßte er sich ein Herz. Er war ein Ritter des Prinzen und in wichtiger Mission auf dem Weg zu seinem Herrn. Nichts würde ihn aufhalten! Alrik setzte das Hörn an seine Lippen.
Ein langer melodischer Ton hallte über den Fluß zum Schloß auf dem Felsen hinauf. Fast augenblicklich tat sich dort ein mächtiges Portal auf. Alrik hatte mit einem einzelnen Ritter gerechnet. Doch statt dessen passierte eine ganze Reiterkavalkade das Tor und kam den breiten Weg herunter, der sich um die Felswand abwärts schraubte. Es mochten wohl an die hundert Reiter sein. Der Oberst konnte Damen mit hohen, spitzen Hüten erkennen, so wie er sie von alten Gobelins im Schloß seines Vaters kannte. Schleier, fein wie Spinnweben verdeckten ihre Gesichter. Dazwischen waren Reiter, die unter langen, rotweißen Waffenröcken schimmernde Panzer trugen und golddurchwirkte Banner führten.
An der Spitze des Zuges ritt ein hochgewachsener Mann auf einem Schimmel. Er trug ein rotes Barett, unter dem langes, schwarzes Haar hervorquoll. Sein Wams war aus prächtigem Brokat gefertigt und schimmerte in Rot und Gold. Darunter trug er schwarze Hosen, die eng an seinen Beinen anlagen. Der Arm des Anführers ruhte in einer Schlinge, ganz so, als sei er verletzt.
»An der Spitze reitet Ornaval«, flüsterte Andra. »Er ist einer der mächtigsten Fürsten in diesem Reich. Man sagt, er stammt aus dem hohen Volk der Elfen.«
»Ach so«, kommentierte Alrik Andras Bemerkung und musterte weiter die herannahenden Reiter, aus deren Gruppe sich ein prächtig gekleideter Knabe löste, um in ihre Richtung zu reiten. Wenige Augenblicke später hatte er die Brücke erreicht, machte auf der Mitte halt und verkündete mit lauter Stimme: