Dann sah er ein gleißendes Licht. Die Pforten des Paradieses öffneten sich für ihn. Rondra hatte ihn erhört! Eine breite Straße aus Licht führte direkt ins Himmelsgewölbe.
Alrik fiel das Schwert aus der Hand. Er hatte das Gefühl, sanft aufgehoben zu werden und schwerelos dahinzugleiten. Nur ein gräßlicher Gestank trübte das Frohlocken über diesen letzten Augenblick seines Lebens. Dann schwanden ihm die Sinne.
8
Kolon war wütend. Den Beinamen Tunneltreiber, den er sich schon in der Zeit verdient hatte, als er noch bei seinem Volk lebte, erschien ihm nun wie ein Hohn. Er selber war leichtfertig genug gewesen, Sharraz Garthai den Vorschlag zu machen, Tunnel unter die Stadt zu bauen. Nun hatte er den Ärger!
Wohl an die hundert menschliche Sklaven und vielleicht ein Dutzend Aufseher unterstanden seinem Kommando.
Es regnete in Strömen. Nichts Ungewöhnliches im Monat Travia. Doch durch das Wasser war die Erde zu einem braunen Schlamm aufgewühlt, und es schien fast unmöglich zu graben. Ständig lief Wasser in die drei Gruben, die er hatte ausheben lassen.
Tunnel sollte man in Felsen treiben, dachte er. Aber er würde seinen Befehl schon ausführen. Die Hälfte seiner Leute hatte er eingeteilt, um hölzerne Verschalungen für die Tunnelschächte zu fertigen; bislang war es auch noch zu keinem größeren Unfall gekommen. Geradezu ein Wunder bei diesen Bedingungen.
Kolon wischte sich Wasser und Schlamm von der Stirn und watete zum nächsten Erdloch. Er ließ die Arbeiten zu den Tunneln hinter den Hügeln ausführen, die sie vor einigen Wochen aufgeschüttet hatten, um in ihrem Schutz Belagerungstürme zu bauen. Von der Stadt aus war es so unmöglich einzusehen, was sie taten. Genüßlich malte sich Kolon aus, wie sie mitten auf dem Platz der Sonne durch das Erdreich stoßen würden und die Krieger der Orks in die Stadt stürmten, um die überraschten Menschen abzuschlachten.
Dann erklomm er mühsam einen der Erdhügel, um zur Stadt hinüberzublicken. Die Bresche, die Gamba in die Ostmauer geschlagen hatte, war notdürftig mit Steinen und Balken verbarrikadiert worden. Dennoch würde dies ein Schwachpunkt in der Verteidigungslinie der Stadt bleiben. Hätten sie nur genügend Krieger, dann wäre es ein leichtes, dort einzudringen. Kolon wollte die Aufmerksamkeit der Greifenfurter von der Ostmauer ablenken. Er mußte sie an anderer Stelle beschäftigen. Sie sollten nicht einmal ahnen, welche neue Gefahr ihnen hinter den Hügeln erwuchs. Sharraz Garthai brauchte einen schnellen Sieg, doch das war unmöglich. Nicht einmal, wenn er die Stadt langsam zusammenschoß, würde innerhalb der nächsten zwei oder drei Wochen eine Entscheidung fallen. Sie hatten einfach zu wenige Krieger.
Aber für einen Belagerungsexperten sollte das kein Problem sein! Kolon hatte sich schon lange einen Plan zurechtgelegt. Alle Drasdech, so wurden die Handwerker in den Stämmen der Orks genannt, waren damit beschäftigt, Geschütze zu fertigen. Er ließ sie außerhalb der Reichweite der Katapulte der Stadt bauen, so daß die Greifenfurter zwar gut sehen konnten, welche Bedrohung ihnen erwuchs, aber keine Möglichkeit hatten, etwas dagegen zu unternehmen.
Sobald genügend schwere Rotzen gefertigt waren, würde er sie alle an einer Stelle zusammenziehen lassen, und von diesem Tag an würden die Bürger keine Zeit mehr finden, darüber nachzudenken, was hinter den Erdhügeln vor sich gehen mochte.
Der Zwerg lächelte grimmig und blickte durch die Regenschleier zur Stadt. Greifenfurt und sein Name würden in der Geschichtsschreibung Deres auf immer miteinander verbunden sein. Es wäre allein sein Verdienst, wenn es den Orks schließlich gelang, diese schwer befestigte Grenzstadt zu erobern.
Marcian hatte alle Offiziere der Stadt im großen Saal des Palas um sich versammelt. Cindira saß an seiner Seite. Zunächst hatte es deshalb Schwierigkeiten mit den Kriegern gegeben, weil sie nicht akzeptieren mochten, daß ein Freudenmädchen bei ihren Versammlungen zugegen war. Aber noch reichte die Autorität des Inquisitors, um seinen Willen durchzusetzen. Ihm war Cindiras Anwesenheit wichtig. Mit ihr besprach er im nachhinein alle Debatten, und nie traf er eine Entscheidung, ohne vorher ihre Meinung gehört zu haben. Sie repräsentierte für ihn die Stimme der Bürger, denn Cindira sah seine Entscheidung nicht aus dem Blickwinkel militärischer Notwendigkeiten, sondern so, wie sie die Greifenfurter empfanden. Cindira hatte ihn vor zwei Tagen darauf aufmerksam gemacht, wie wenig Katzen und Hunde es noch in der Stadt gab. Eine Tatsache, der er keinerlei Bedeutung geschenkt hatte. Doch darin spiegelte sich mehr als in vielen Worten, wie es um die Greifenfurter stand. Sie hatten begonnen, ihre Haustiere zu fressen! Es gab zwar noch genügend getrocknetes Gemüse und Mehl, um die Bürger für einige Wochen zu ernähren, doch frisches Fleisch war schon lange nicht mehr zu bekommen.
Cindira hatte ihm erzählt, daß es Banden gab, die auf streunende Katzen und Hunde Jagd machten und mittlerweile nicht einmal mehr davor zurückschreckten, die Tiere nachts aus ihren Zwingern zu holen.
Marcian hatte verstärkt Wachen durch die Straßen patrouillieren lassen, doch angeblich waren es gerade Soldaten, die diese nächtlichen Raubzüge unternahmen. Ein besonders schlechtes Licht fiel dabei auf die Leute Lysandras. Die Kämpfer der Amazone standen in dem Ruf, Halsabschneider und Wegelagerer zu sein.
Cindira hatte Marcian davon überzeugt, daß es notwendig war, die Spannungen abzubauen, die zwischen Soldaten und Bürgern entstanden waren. Man sollte noch einmal ein gemeinsames Fest feiern, so wie damals, als sie die Orks aus der Stadt geworfen hatten. Ein Fest, bei dem noch einmal die glorreichen Taten der vergangenen Monate beschworen wurden, bei dem die Garnison der Stadt ein Opfer brachte. Es sollte reichlich Fleisch geben! Und in den Mauern der Festung gab es noch genügend frisches, lebendiges Fleisch.
Marcian erhob sich von seinem Sitz im Rittersaal. Augenblicklich erstarben die leisen Gespräche, die die Offiziere unter sich geführt hatten. »Marbon, wieviel Pferdefutter haben wir noch in der Garnison?«
Der Oberfouragier blickte Marcian überrascht an. Er war während der Offiziersversammlungen fast noch nie zu Wort gekommen, und die Frage nach den Pferdefutterbeständen kam ihm mehr als seltsam vor. »Was wir an Heu und Hafer haben, mag bei dem derzeitigen Bestand an Reittieren wohl noch einen Monat reichen, Kommandant.«
Marcian musterte den kleinen Mann. In den letzten Wochen war er wie alle im Saal immer dünner geworden. Sein einst stattlicher Bauch war fast völlig verschwunden, und seine nun viel zu weiten Kleider hingen lose um seinen ausgemergelten Körper. Ein gutes Zeichen, überlegte Marcian. Das war der beste Beleg, daß er sich keine Sonderrationen abzweigte, obwohl ihm das in seinem Amt leichtgefallen wäre.
»Gut, Marbon. Das heißt also, daß wir damit rechnen müssen, in sechs Wochen gar keine Pferde mehr zu haben.«
Unruhe machte sich unter den Offizieren breit. Vielleicht ahnten die ersten schon, worauf er hinauswollte.
»Stallmeister Ordbert, wie viele Pferde haben wir noch in der Stadt?« Der Kürassier mit den gezwirbelten, in groteskem Winkel hochstehenden Schnauzbartspitzen nahm Haltung an und antwortete militärisch knapp: »Wir haben wohl an die hundertfünfzig Pferde. Zwanzig davon sind arge Schindmähren, die zu kaum was nutzen. Dreißig Tralloper Riesen, gute Arbeitstiere, die allerdings viel Futter brauchen, und um die hundert gute Kavalleriepferde, die meisten davon aus kaiserlicher Zucht.«
»Gut, Stallmeister. Und wie viele Kürassiere haben wir noch, wenn man die Verwundeten mitrechnet?«
»Mit mir 73, Kommandant!«
Marcian stieg die Stufen vom Thronsessel des Markgrafen herab und stellte sich vor die Offiziere. Die langen Tische, die früher im Saal standen, hatte er entfernen lassen. Die Offiziersversammlungen wurden schon eine Weile nicht mehr mit einem gemeinsamen Essen abgeschlossen. Bei der schlechten Versorgungslage wäre dies nur eine unnötige Provokation der Bürger gewesen, die ohnehin schon unterstellten, daß die Soldaten besser versorgt würden.